Ein Land, in dem selbst Bibliotheken theoretisch illegal sind

Argentinien hat eines der weltweit anachronistischsten Copyright-Gesetze

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Seit Jahren ziehen in Argentinien Aktivisten gegen das Gesetz Nummer 11.723 zum Schutz "geistigen Eigentums" zu Felde. Es regelt, dass ein Werk nach dem Ende seiner Schutzfrist "in eine als zahlungs- oder entgeltpflichtige Gemeinfreiheit bezeichnete Nutzform übergeht", heißt es in dem vor Kurzem mit Unterstützung der Grünen-nahen deutschen Heinrich-Böll-Stiftung erschienenen Buch Argentina Copyleft.

Die Immaterialgüterrechtslage in Argentinien schafft nicht nur enorme gesellschaftliche und kulturpolitische Probleme. Sie steht auch in einem zunehmenden Widerspruch zu neuen technischen Möglichkeiten. Das Internet ist ein Beispiel. Das Problem betrifft aber nicht nur neue Anwenderhardware wie Smartphones und Tablet-Computer, sondern auch alte Formen der Informationsweitergabe.

Nach Angaben der World Intellectual Property Organisation (WIPO) sind sogar argentinische Bibliotheken im Grunde illegal. Das Land gehört nämlich zu einem von 21 Staaten weltweit, die über keine Ausnahmeregelungen für öffentliche Büchereien verfügen, sagt Beatriz Busaniche, eine der Autorinnen von Argentina Copyleft. Zudem fehlt sogar eine Regelung zum angemessenen Gebrauch geschützter Werke, dem aus dem US-Copyright bekannten fair use. Wer eine Parodie oder eine Bearbeitung anfertigt, kann deshalb belangt werden.

Für besonderen Unmut sorgte vor diesem Hintergrund eine zusätzliche Verschärfung des umstrittenen Gesetzes. Nach einer recht kurzen Debatte im Parlament fügte man dem Text einen Artikel an, der "das Monopol von Interpreten und Produzenten von Tonträgern von bislang 50 auf 70 Jahre verlängert", schrieb unlängst der Fachjournalist Horacio Bilbao in der Kulturbeilage der Tageszeitung Clarín. Die Novelle war offenbar auf Druck der Kulturindustrie durchgesetzt worden.

Bekannt wurde die Neuregelung in den Medien des Landes als "Mercedes-Sosa-Gesetz", weil die Befürworter eine Aufnahme des wenige Tage zuvor verstorbenen Nationalheiligtums benutzen, um für das Vorhaben zu werben. Die erste Aufnahme Sosas, La Voz de la Zafra aus dem Jahr 1961, hätte nach bisheriger Rechtslage zum Jahreswechsel dem Monopolschutz verloren. Nun bleibt sie zwei weitere Jahrzehnte von den Lizenzinhabern verwertbar. Die Novelle sorgt aber auch dafür, dass es zahlreichen anderen Aufnahmen der argentinischen Nationalkultur ebenso ergeht - darunter Musik von Edmundo Rivero, Osvaldo Pugliese oder Atahualpa Yupanqui.

Auch die Aktivisten der Stiftung Vía Libre wollen eine Gesetzesänderung - aber in die entgegengesetzte Richtung. Ihrer Ansicht nach droht der restriktive Immaterialgüterrechtsschutz die kulturelle Entwicklung zu hemmen. Angesichts neuer Medien ziehen sie einen Vergleich zu den Buchkopierern im Mittelalter. Ohne die manuelle Vervielfältigung und die maschinellen freien Kopien von Büchern nach 1450 hätte viel Wissen die Mauern der Klosterbibliotheken nie verlassen.

Busaniche führt gegen das Gesetz Nummer 11.723 auch einen Widerspruch zu internationalem Recht an: Der argentinische Staat habe schließlich den UNO-Sozialpakt unterzeichnet, der den Menschen das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben garantiert. Nach den aktuellen Gesetzen aber hat nur derjenige Zugang auf kulturelle Werke, der die finanziellen Möglichkeiten hat, dafür zu bezahlen. Zur gleichen Zeit verwaisen alte Werke aus den vergangenen Jahrhunderten, weil sie niemand verlegt.

Vía Libre argumentiert sogar ganz grundlegend mit Menschenrechten: Nicht nur der UNO-Sozialpakt, sondern auch die Menschenrechtscharta schreibt in Artikel 27 nämlich das Recht auf den Genuss der Künste und die Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt fest. Wer in Argentinien aber versuche, frei an den Künsten teilzuhaben, werde als kriminell bezeichnet und vom Gesetz bedroht.

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