Brüsseler Krokodilstränen

Ohne Netzsperren könnten die Ungarn bei einer Medienzensur im eigenen Lande problemlos auf ausländische Medien zugreifen - verabschiedet die EU eine geplante Richtlinie, geht das bald europaweit nicht mehr

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Seit die ungarische Regierung ein Mediengesetz verabschiedet hat, nach dem ein von ihr zusammengestellter Rat nicht nur Radio und Fernsehen, sondern auch Presse und Onlinemedien kontrollieren darf, betonen Politiker aus anderen europäischen Ländern in öffentlichen Stellungnahmen, wie schrecklich sie das fänden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel von der CDU warnte die Regierung in Budapest beispielsweise davor, "rechtsstaatlichen Prinzipien" zu verletzen und Daniel Cohn-Bendit, der Grünen-Fraktionschef im Europaparlament, meinte im Deutschlandfunk, Ungarn würde sich in eine "Überwachungsdiktatur" verwandeln, weshalb man untersuchen müsse, ob dem Land nach Artikel 7 des EU-Vertrages das Stimmrecht und mit ihm die Präsidentschaft entzogen werden könne.

Auch der FDP-Europaparlamentarier Alexander Graf Lambsdorff forderte, seinen Parteigenossen Außenminister Guido Westerwelle dazu auf, nun "schleunigst tätig [zu] werden" und solch einen Verstoß gegen Artikel 7 zu prüfen, da sonst "autoritäre Fäulnis" in die Europäische Union einziehen würde. Martin Schulz, der Anführer der sozialdemokratischen Fraktion, sah im Deutschlandradio Kultur durch Ministerpräsident Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei ebenfalls europäische "Grundwerte" in Gefahr gebracht und plädierte dafür, Wirtschaftssanktionen gegen die Gulaschrepublik zu verhängen, in der die Zustimmungswerte zur EU in den letzten Jahren von zwei auf ein Drittel abgesunken sind.

Die öffentliche Bestürzung verwundert freilich insofern, als die sie äußernden Politiker und Parteien in der Vergangenheit nicht gerade zimperlich waren, wenn es um Einschränkungen von Presse-, Rede- und Informationsfreiheiten ging. Hier könnte sich durchaus der Verdacht aufdrängen, dass, wie der CSU-Abgeordnete Markus Ferber meint, mit "zweierlei Maß" gemessen wird.

Cecilia Malmström. Foto: Security and Defence Agenda. Lizenz: CC-BY 2.0.

Noch seltsamer mutet allerdings an, dass die EU-Politelite im Zusammenhang mit dem neuen ungarischen Mediengesetz nicht über die von Innenkommissarin Cecilia Malmström geplanten Netzsperren spricht. Gibt es solche Netzsperren nicht, dann hätten die Ungarn bei einer umfassenden Säuberung ihrer Inlandsmedien die Möglichkeit, vorenthaltene Informationen in ausländischen Publikationen nachzulesen. Existiert solch eine Netzsperren-Zensurinfrastruktur dagegen, dann lässt sich mit ihr auch der Zugriff auf ausländische Medien verhindern, die im Verständnis der ungarischen Regierung "unausgewogen" berichten.

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