Das war 2010

Die Energie- und Klimawochenschau: Extremwetter, massive Atomproteste und Laufzeitverlängerungen. Das ausgehende Jahr hatte einiges zu bieten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ein ereignisreiches Jahr geht zu Ende. In diversen Regionen schlug das Wetter seine Kapriolen und gab weitere Hinweise auf den fortschreitenden Klimawandel, der sich darüberhinaus in einem globalen Temperaturrekord manifestiert. Zugleich ist der Ausblick auf wirksames Gegensteuern, das vor allem in der Energie- und Verkehrspolitik erfolgen müsste, weiter bestenfalls gemischt.

Während in den USA die Steuerbegünstigung für erneuerbare Energieträger lange in der Luft hing und mal wieder zu einem Einbruch der Neubauzahlen in der Windenergie führte, hatte man auch hierzulande das Gefühl, dass mancher in der Berliner Regierungskoalition gern das Rad zurückdrehen würde.

Einerseits die Atomkraftwerke länger als bisher geplant laufen lassen, andererseits den Ausbau von Windkraft- und Photovoltaikanlagen behindern, wo es nur geht - so stellt sich die Politik der Schwarz-Gelben dar, wobei es allerdings vor allem in der Union auch zahlreiche Fürsprecher der eneuerbaren Energieträger gibt, die mitunter auf der kommunalen oder regionalen Ebene zu den eifrigen Förderern gehören.

Doch in der Frage der AKW-Laufzeiten war von innerparteilicher Opposition nicht viel zu sehen. Eigentlich war es bereits mit dem Wahlsieg von Union und Liberalen im September 2009 klar gewesen: Die AKW-Laufzeiten sollen verlängert, genauer: die Reststrommengen der Atommeiler deutlich verlängert werden (siehe Abstimmung am Donnerstag). Zwar hatten beide Parteien das Thema im Wahlkampf, wohlwissend um den Widerstand in der Bevölkerung, niedrig gehängt. Dennoch hatten sie keinen Zweifel daran gelassen, dass die Stromkonzerne diese Milliarden-Geschenk (siehe Bis zu 200 Milliarden Euro Gewinn) bekommen würden.

Laufzeiten werden verlängert

Deshalb kam es keineswegs überraschend, dass die Merkel-Regierung das Thema im Sommer in Angriff nahm. Erstaunlich war allenfalls, wie wenig Mühe sie sich gab, den Akt sachlich zu begründen. Das von ihr in Auftrag gegeben Gutachten (siehe Tricksereien mit den Laufzeiten) lieferte nur sehr bedingt Argumente für Reststrommengen, mit denen der letzte Meiler vielleicht erst in etwa 30 Jahren vom Netz gehen wird.

Vor allem ließ es völlig offen, ob das Material der Reaktoren überhaupt derart langen Laufzeiten standhalten kann. Aufschluss darüber könnten Untersuchungen an stillgelegten Altmeilern wie etwa dem AKW Obrigheim geben, das nach 35 Jahren Betrieb stillgelegt wurde. Baden-Württembergs Umweltministerin Tanja Gönner (CDU) konnte sich jedoch nicht für dortige Materialtests erwärmen. Dafür gebe es keine rechtliche Handhabe, und neue Erkenntnisse seien auch nicht zu erwarten.

Diverse Umweltverbände wie auch die Interessenvertretungen der Windmüller und der Solarindustrie machten in unterschiedlichen Stellungnahmen klar, dass sie in den Atomkraftwerken keineswegs die von der Bundesregierung behauptete "Brückentechnologie" sehen. Vielmehr gehen sie davon aus, dass die als Grundlastkraftwerke laufenden AKW, die kaum regelbar sind (siehe Heißer Herbst in Sachen Energie), kaum mit einem weiteren Ausbau von Wind und Sonne vertragen, deren Stromproduktion nur bedingt steuerbar ist (siehe Verfassungsrechtlich höchst bedenklich und Energiepolitischer Irrsinn).

Massenprotest

Da wundert es eigentlich kaum, dass die Beschlüsse der Bundesregierung wie ein Jungbrunnen für die Anti-AKW-Bewegung wirkten. Schon im Vorfeld hatte die Bundesrepublik am 24. April die größten Anti-AKW-Proteste ihrer Geschichte erlebt. Bis zu 150.000 Menschen beteiligten sich in Hamburg und Schleswig-Holstein, in Niedersachsen sowie in Hessen an Menschenketten und Kundgebungen (siehe Massenprotest gegen schwarz-gelbe Atompolitik).

In Berlin demonstrierten dann am 18.09. bis zu 100.000 Menschen gegen die Laufzeitverlängerung (Noch nicht das letzte Wort gesprochen), und im niedersächsischen Wendland nahmen eineinhalb Monate später Anfang November die Proteste gegen den diesjährigen Atommülltransport ins Gorlebener Zwischenlager selten gesehen Ausmaße und Entschlossenheit an (siehe 50.000 in Gorleben und Erfolg für Atomgegner).

Zusätzliches Öl ins Protestfeuer hatten verschiedene Skandale um das in Gorleben geplante (siehe Explosionsgefahr in Gorleben) sowie das in der Nähe von Wolfenbüttel (Ost-Niedersachsen) bereits eingerichtete Endlager (Schlimmer geht es in der Asse immer) gegossen.

Inzwischen sind die neuen Reststrommengen zwar vom Bundestag beschlossen und konnten auch im Bundesrat nicht aufgehalten werden (AKW-Laufzeiten durchgewunken), aber das Thema wird uns sicherlich auch im neuen Jahr beschäftigen. Mehrere SPD-geführte Bundesländer haben angekündigt, nach Karlsruhe vors Bundesverfassungsgericht ziehen zu wollen, weil die Gesetzesänderungen nicht der Länderkammer vorgelegt worden waren.

CCS fraglich

Ähnlich wenig Freunde hat sich die Bundesregierung mit ihrem Vorhaben gemacht, ein Gesetz zur Regelung der Abscheidung und Einlagerung von CO2, kurz CCS-Gesetz, auf den Weg zu bringen. Hier hat sie zwar den Vorteil, dass die SPD eine eher unentschiedene Haltung hat, hatte sie doch ein ähnliches Vorhaben vor knapp zwei Jahren in der schwarz-roten Koalition noch unterstützt (siehe CO2-Gesetz gescheitert).

Und auch die Linkspartei ist in der Frage eher gespalten. Vor Ort gibt es von Schleswig-Holstein über Sachsen-Anhalt bis ins südliche Brandenburg jedoch vehementen Widerstand der potenziell betroffenen Bevölkerung.

Das dem Energiekonzept der Bundesregierung zugrunde liegende Gefälligkeitsgutachten geht übrigens davon aus, dass sich die Technik ohne nennenswerten Widerstand durchsetzen lässt und CO2 sogar im Ausland eingelagert werden könnte. Die Niederlande haben sich hingegen bereits offiziell gegen die CCS-Pfeifenträume ausgesprochen (siehe Perpetuum mobile mit Verlusten) und auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat im September klar gestellt, dass die Technik wahrscheinlich nie richtig wirtschaftlich sinnvoll und auch kaum vor 2025 einsatzbereit sein wird.

Peak Kohle?

Zu allem kommt noch die Unwägbarkeit der künftigen Verfügbarkeit von Steinkohle. Schon jetzt reicht die an Ruhr und Saar geförderte Kohle bei weitem nicht mehr für die hiesigen Kraftwerke aus, und ab 2018 ist Schicht im Schacht. Die Bundesregierung hat mit Müh' und Not in Brüssel durchdrücken können, dass die Subventionen noch weitere acht Jahre fortgesetzt werden dürfen. Ursprünglich hatte die EU-Kommission bereits für 2014 das Aus verlangt (siehe Brüssel gegen Kohlesubventionen). Seinerzeit übrigens sehr zum Ärger von Merkel, weil ihr Energie-Kommissar Oettinger die maßgebliche Sitzung verpennt hatte.

Die große Frage ist allerdings, ob der zur Zeit noch vergleichsweise niedrige Preis für Kohle auf dem Weltmarkt noch lange zu halten sein wird. Inzwischen gibt es schon die eine oder andere Studie, die den Höhepunkt der Kohleförderung - Peak Kohle sozusagen - bereits erreicht oder zumindest in naher Zukunft erreicht sehen. Damit ergebe sich ein ähnliches Problem, wie für das Erdöl und seine Derivate, die sicherlich auch nie mehr so billig wie noch vor wenigen Jahren werden.

Peak Oil ist ja inzwischen in aller Munde und selbst die Internationale Energieagentur hält ihn inzwischen für gekommen, zumindest was die konventionelle Förderung angeht (siehe Peak Oil liegt hinter uns). Nur bei Teersänden und ähnlichem sieht sie noch geringe Aussichten auf Ausdehnung der Produktion. Nur die Bundesregierung will den Ernst der Lage immer noch nicht wahrhaben (siehe Beim Erdöl gibt sich die Bundesregierung optimistisch).

BP lässt's sprudeln

Unterdessen hat der Ölkonzern BP diesen Sommer eindrucksvoll demonstriert, wie die ökologischen Folgen der Ölverknappung aussehen können. Weil der Preis steigt und alle "einfachen" Felder längst erschlossen, wenn nicht gar schon ausgebeutet sind, dringt die Exploration in immer schwierigere Gebiete wie das Polarmeer oder die Tiefsee vor. Das bringt zusätzliche Risiken mit sich, derer die Konzerne nicht immer Herr werden.

Von Mai bis August sprudelten nach offiziellen Angaben 4,9 Millionen Barrel Öl aus dem Boden des Golfs von Mexiko, weil BP es ein wenig zu eilig gehabt hatte, mit der Förderung zu beginnen (siehe BP: "No asses to kick"). Damit war er für die bisher größte Umweltkatastrophe in der Gesichte der US-Ölförderung verantwortlich. Konsequenzen? Keine. Nach einer gewissen Schamfrist hat die US-Regierung im Herbst Tiefseebohrungen wieder erlaubt. Neue Gesetze mit schärferen Regeln für die Unternehmen gibt es aus noch nicht, wie die Times berichtet.

Im Schatten der Krise hat übrigens die schlewig-holsteinische Landesregierung im Mai in aller Eile und in einer semi-klandestinen Aktion die Konzession für die Ölförderung im Wattenmeer nordwestlich der Elbmündung verlängern lassen. Während die Abgeordneten im Landtag noch unter dem Eindruck der Ereignisse im Golf von Mexiko debattierten, die Konzession für die von RWE Dea und der BASF-Tochter Wintershall betriebene Förderung vielleicht Ende 2012 einfach auslaufen zu lassen, sorgte das Wirtschaftsministerium dafür, dass das Verfahren in Windeseile durchgewunken wurde.

Nicht einmal das Kieler Umweltministerium wurde informiert und dem Landtag vorgegaukelt, dass noch nichts entschieden sei. Zu allem Überfluss soll einer der beteiligten Abteilungsleiter im Wirtschaftsministerium mit RWE verbandelt sein. Und das alles von einer Regierung, die bei der letzten Wahl nicht einmal eine Stimmenmehrheit bekommen hatte und nur aufgrund einer eigenwilligen Interpretation des Wahlgesetzes im Amt ist.

Extremwetter

Derweil lässt der Klimawandel nicht auf sich warten. Diverse Extremereignisse haben in diesem Jahr lokale und regionale Rekorde gebrochen. Mitteleuropa erlebte eine ungewöhnliche Hitzewelle mit Temperaturen von etwa über 38 Grad Celsius an einigen Orten in Deutschland, und in Russland brannten wochenlang die Wälder, um nur einige Beispiele zu nennen.

Besonders schlimm erwischte es Pakistan. Der indische Monsun hatte sich etwas nach Westen verlagert, eine Folge von Veränderungen der globalen Zirkulation aufgrund zu warmer Wasseroberflächentemperaturen im Indischen Ozean. Das Ergebnis waren dramatische Regenfälle zunächst im Norden und dann in größeren Teilen Pakistans. In den Paschtunengebieten, die an den Oberläufen der Flüsse im Norden des Landes liegen, gingen große Waldgebiete verloren, Wälder, die bisher eine wichtige Einnahmequelle für Behörden wie für illegal operierende Unternehmen waren. Die Fluten wuschen sie die Berghänge hinab und mit ihnen viel fruchtbaren Boden, der jetzt den Bauern und Hirten fehlt.

Ganze Dörfer wurden ausradiert und die pakistanische Journalistin Zofeen T. Ebrahim schreibt, dass daran wie bei anderen Zerstörungen auch der Holzeinschlag seinen Anteil hatte. Baumstämme, die in den Tälern der Bäche zu Abtransport bereit lagen sollen in den Lawinen eine zusätzlich verheerende Wirkung entwickelt haben.

Immerhin haben aber die großen Mengen Sediment, die den Indus hinab in dessen Delta gespült wurden, dort auch ihr Gutes, wie die Nachrichtenagentur UPI unter Berufung auf Umweltschützer vom WWF berichtet. Die Mangrovenwälder würden durch das Süßwasser und die neuen Sandbänke profitieren.

Für die rund 2000 Menschen, die durch die Fluten ums Leben kamen, wie für die mehreren Millionen, die entlang des Flusses Hab und Gut und oft auch das Dach über dem Kopf verloren, ist das allerdings kaum ein Trost. Im Swat-Tal, das noch bis vor kurzen von den Taliban kontrolliert wurde, waren viele Menschen gerade erst in ihre Dörfer zurückgekehrt. 2008, als die Armee nach Jahren der Komplizenschaft endlich gegen die Glaubenskrieger vorging, waren sie zwischen die Fronten geraten und daher geflohen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung war zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden.

Verschlimmert wurde das Leid vielfach durch die Unfähigkeit der Behörden, sowohl Vorsorge zu treffen, als auch sich schnell und umfassend um die Opfer zu kümmern, wie Kamila Shamshie im Guardian im August schrieb. Eine immer wieder kehrender Aspekt der die Folgen von Naturkatastrophen noch verstärkt. Dabei haben Europäer keinerlei Veranlassung, sich damit zu beruhigen, dass staatliches Versagen eine Besonderheit von Entwicklungs-oder Schwellenländern sei.

Deregulierung und Privatisierung

Am Beispiel des Hurrikan "Katrinas", der 2005 New Orleans verwüstete, konnten wir recht eindringlich sehen, wohin es führt, wenn aufgrund neokonservativer Ideologie der Staat seiner wesentlichen Schutzfunktionen für die schwächeren Bevölkerungsteile beraubt wird. Weder waren die US-Behörden im Vorfeld in der Lage gewesen, die Deiche rechtzeitig zu verstärken, obwohl deren unzulänglicher Zustand lange bekannt war, noch hatten sie die mehrere Tage Vorwarnzeit genutzt um irgendwelche Vorkehrungen zum Schutz der Bevölkerung zu ergreifen. Selbst nach dem Eintritt der Katastrophe überließ man die Menschen sich selbst und beschränkte sich zunächst weitgehend auf die Entsendung privater Söldner, die Jagd auf Hungernde machte.

In Deutschland undenkbar? Bei den Hochwassern an Rhein, Oder und Elbe in den letzten Jahren hat der hiesige Katastrophendienst bisher problemlos funktioniert. Kein Politiker kam bisher auf die Idee, diesen privatisieren zu wollen. Bis vor kurzem. In Schleswig-Holstein diskutiert die dortige - nicht ganz legitime (siehe Linksruck in Kiel) - schwarz-gelbe Landesregierung, für den Deichbau an der Küste künftig eine Abgabe bei den Anwohnern zu erheben. Ein erster Schritt, um in Zeiten steigender Meeresspiegel (siehe Grönland steigt aus dem Meer auf) den Küstenschutz zum Privatproblem der Menschen in den Küstenstädten und -dörfern zu machen.