"Ein virtuelles Sit-in ist auch nach deutschem Recht möglich"

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger über WikiLeaks, Proteste im Internet sowie die Gesetzgebung in Deutschland und Europa

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Auf die jüngste Veröffentlichung der Internetplattform Wikileaks folgten in den vergangenen Wochen erhebliche Konflikte zwischen Netzaktivisten, staatlichen Akteuren und Privatunternehmen. Für anhaltende Debatten sorgen dabei nicht nur die Sanktionen gegen Struktur und Protagonisten von Wikileaks, sondern auch Formen des politischen Aktivismus im Netz. Telepolis sprach mit Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger über Möglichkeiten und Grenzen des Protestes im Internet.

Frau Leutheusser-Schnarrenberger, nach den Veröffentlichungen der Internetplattform Wikileaks ist ein wahrer Kampf zwischen den Anhängern und Kritikern dieses Projektes entbrannt. Unternehmen, die ihre Zusammenarbeit mit dem Projekt aufgekündigt haben, wurden Ziel von Internetattacken, die ihre Webseiten oder Fax-Anschlüsse lahmlegen sollten. Ist das strafbar?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Nach deutschem Strafrecht kann man sich durch so genannten Denial-of-Service-Attacken wegen Computersabotage nach § 303b des Strafgesetzbuchs strafbar machen, weil man eine Datenverarbeitung stört, um jemanden zu schädigen. Das ist quasi eine Sachbeschädigung im virtuellen Raum.

Aber haben die betroffenen Unternehmen nicht zuerst ihre Marktstellung missbraucht, um das Projekt Wikileaks quasi auszutrocknen? Die Reaktionen wären dann so etwas wie ein virtuelles Sit-in.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Wer ein virtuelles Sit-in machen möchte, hat dazu nach deutschem Recht auch die Möglichkeit. Proteste per Massen-Email und Boykottaufrufe gegen Unternehmen sind erlaubt und sogar von der Meinungsfreiheit nach Artikel 5 des Grundgesetzes geschützt. Die Grenze zwischen straffreiem Protest und Computersabotage liegt da, wo anderen gezielt ein Schaden zugefügt wird, indem man seine Datenverarbeitung lahmlegt. Das ist bei einer richtigen Demonstration aber auch nicht anders, da dürften Sie auch nicht als Zeichen des Protestes die Filialen von Unternehmen verwüsten.

Weshalb kann das Recht, das bei politischen Aktionen des zivilen Ungehorsams greift, nicht aber auch im Internet Anwendung finden? Bei wahrscheinlichen künftigen Konflikten dieser Art würde das doch für beide Seiten Rechtssicherheit schaffen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Man kann ja seinen Protest auch im Internet, auch mit Mails zum Ausdruck bringen. Wie gesagt: Protestmails und Boykottaufrufe sind erlaubt und von der Meinungsfreiheit gedeckt. Nicht erlaubt ist dagegen die Computersabotage. Die Rechtssicherheit, die Sie fordern, gibt es also schon.

Wie bewerten Sie im Zusammenhang mit WikiLeaks die doch recht massiven Sanktionen? Es wurden Konten geschlossen, Spiegelungen der Inhalte von den Hosting-Anbietern unterbunden und Medien-Seiten gesperrt ...

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich sehe das sehr kritisch. Wir im Westen können ja nicht auf der einen Seite Länder kritisieren, die das Internet zensieren, weil sie sich bedroht sehen, dann aber selbst bestimmten Anbietern den Zugang zum Internet verwehren. Denn auch Diktaturen argumentieren oft damit, dass Staatgeheimnisse bedroht seien. Insofern halte ich die Entscheidung von Unternehmen, WikiLeaks den Zugangshahn abzudrehen, insbesondere da für problematisch, wo das auf Druck westlicher Regierungen geschieht.

Ich sehe zwar auch WikiLeaks unter gewissen Aspekten kritisch. Ich bin insbesondere dafür, dass diejenigen, die von anderen Transparenz fordern, auch selbst zulassen, dass man ihnen in die Karten schaut. Wo WikiLeaks gegen Gesetze verstoßen hat, müssen wir darüber nachdenken, die Inhalte einfach zu löschen. Wo es uns aber einfach nur nicht passt, was da veröffentlicht wird, müssen wir damit leben. Grundsätzlich bin ich aber dafür, dass wir uns mit dieser neuen Form der Öffentlichkeit viel intensiver auseinandersetzen, auch mit anderen Portalen. Was ist daran gut? Wo müssen wir sagen: Das geht nicht mehr, das ist verantwortungslos oder sogar schlicht verboten?

In diesem Zusammenhang: Sind solche Vorgänge im Internet mit nationaler Gesetzgebung überhaupt in den Griff zu bekommen?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: National ist das nur begrenzt möglich. Aber ich bin optimistisch im Hinblick auf europäische und internationale Standards. Denn sowohl für die Freiheiten im Internet als auch für ihre Grenzen gibt es bereits internationale Standards, zum Beispiel auf europäischer Ebene. Die Computerkriminalität, auch in der Form der Computersabotage, wird nach einem Übereinkommen des Europarates von den Vertragsstaaten gemeinsam bekämpft. Die Meinungsfreiheit – auch im Internet – ist von der Europäischen Grundrechtscharta geschützt. In Artikel 11 der Charta ist übrigens die Freiheit, Informationen und Ideen ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben, ausdrücklich gewährleistet.

Wir brauchen kein eigenes Internet-Grundrecht im Grundgesetz

In Deutschland regelt Artikel 8 des Grundgesetzes die Versammlungsfreiheit. Wie könnte eine entsprechende Regelung für das Internet aussehen?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Die Nutzung des Internets als Informationsquelle sowie als Medium für den Austausch von Meinungen ist schon vom Grundgesetz geschützt, nämlich in Artikel 5. Das ist das Grundrecht, auf das Journalisten sich zum Beispiel in Deutschland bei ihren Recherchen berufen. Dieser Schutz ist in den letzten Jahrzehnten belastbar gewesen, die Medien haben ja viele Skandale und Missstände aufgedeckt. Als Bundesjustizministerin habe ich einen Gesetzesentwurf eingebracht, mit dem die Beihilfe zum Geheimnisverrat entkriminalisiert wird, habe die Pressefreiheit also nochmals gestärkt. Diese Rechte können auch Online-Journalisten selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen.

Artikel 5 reicht auch für die virtuellen Zusammenkünfte des Meinungsaustausches, über die Sie sprechen. Die Versammlungsfreiheit, wie Artikel 8 sie garantiert, passt aber nicht, weil sie ein räumliches Zusammentreffen der sich versammelnden Personen voraussetzt.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Gerade für die Verständigung in Chat-Rooms sollte die Community sich eigene Regeln geben und für verbindlich anerkennen. Das ist nicht die Aufgabe des Staates. Der sollte sich in diesem Bereich ausdrücklich zurückhalten.

Westliche Regierungen legen viel Wert auf die Freiheitsrechte: das Recht auf freie Versammlung, das Recht auf freie Meinungsäußerung und eben auch das Demonstrationsrecht. Deswegen noch einmal die Nachfrage: Müssen diese Menschenrechte nicht dem globalen öffentlichen Raum Internet angepasst werden?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich glaube nicht, dass wir ein eigenes Internet-Grundrecht im Grundgesetz brauchen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes kannten zwar das Internet nicht. Sie haben aber die Meinungsfreiheit unabhängig von der Form der Kommunikation geregelt. Deswegen passt dieses Grundrecht auch heute noch gut. Hinzu kommt der Schutz durch das Post- und Fernmeldegeheimnis gegen Maßnahmen, die sich auf den Kommunikationsvorgang im Internet beziehen und eben nicht nur auf den geschriebenen Brief.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2008 aus den Grundrechten und seiner bisherigen Rechtsprechung ein neues Online-Grundrecht entwickelt, das informationstechnische Systeme vor staatlichen Eingriffen schützt.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Der Schutz des Grundgesetzes endet aber dort, wo die Strafgesetze bestimmte Handlungen klar verbieten. Auch in einem noch so freien Internet wird man keine Kinderpornographie und antisemitische Hetze veröffentlichen dürfen. Um solche Straftaten wirklich wirkungsvoll zu bekämpfen und gleichzeitig die Freiheiten des Internets nicht mehr als nötig zu beeinträchtigen, bin ich dafür, dass wir solche Inhalte sofort löschen, anstatt sie zu sperren.