Von Israel in einem Gefängnis gehalten, von der Hamas verprügelt..

.. und vom Rest der Welt vergessen: Das Gaza Youth's Manifesto for Change - wieviel Raum bekommt eine neue Stimme im Nahostkonflikt?

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Wie geht es eigentlich den Bewohnern des Gazastreifens, die sich nicht den etablierten „Volksvertretern“ zugehörig fühlen, weder der Hamas noch den Resten der Fatah? Die Frage wird immer wieder mal gestellt, aber auch bald wieder vergessen.

Die Ignoranz gegenüber den Nicht-Fanatikern in Gaza ist eine von vielen Wahrnehmungslücken der Nahost- Berichterstattung, die ganz Gaza undifferenziert über den Hamastan-Kamm schert. Solche Ausblendungen sind umso erstaunlicher, als der Nahostkonflikt auch hier - tausende Kilometer entfernt - , so viel Aufmerksamkeit erzeugt, dass man darüber noch in den entlegensten Alpentälern mühelos sofort einen heftigen Streit vom Zaun brechen kann. Und: kein deutscher Tisch, an dem nicht ein Nahostexperte („Alles absperren, Bombe drauf, Schluss“) anzutreffen ist. Was als Realität geschildert wird, zeigt sich bei diesem Konflikt besonders deutlich als völlig abhängig und geprägt vom Lager, mit dem sympathisiert wird.

Auch die Frau am Bierausschank in der Kneipe im Westend weiß es besser, wie Israel mit den Palästinensern verfährt. Aus der seit Jahrzehnten praktizierten Lagerlogik - entweder pro-palästinensisch oder pro-israelisch - und dem daraus zwangsläufig folgenden, ermüdenden und bereits völlig erschöpften, Kontertanz der bekannten Argumente und Positionen, gibt es anscheinend kein Entkommen. Ob die, welche die Wirklichkeit dort erleben, daran etwas ändern können?

Das ist eine der Fragen, die im Zusammenhang mit einem Manifest auftauchen, das derzeit online an Aufmerksamkeit gewinnt. Es geht um das Gaza Youth's Manifesto for Change (oder hier, weiter unten. Spätere Ergänzung: Auf deutsch hier). Der Text beginnt mit den Worten:

Fuck Hamas. Fuck Israel. Fuck Fatah. Fuck UN. Fuck UNWRA. Fuck USA! We, the youth in Gaza, are so fed up with Israel, Hamas, the occupation, the violations of human rights and the indifference of the international community!

Kein Manifest mit unzähligen Programmpunkten, sondern ein gegen die Verzweiflung aufbegehrender Aufschrei, wie die nachfolgenden Zeilen verdeutlichen:

Wir wollen schreien und diese Mauer des Schweigens, der Ungerechtigkeit und der Gleichgültigkeit brechen wie israelische F16- Jets die Schallmauer durchbrechen; schreien mit der ganzen Ktaft in unseren Seelen, um diese enorme Frustration loszuwerden, die uns auffrisst wegen dieser beschissenen Situation, in der wir leben. [...]
Wir sind es leid, dass wir in diesem Streit gefangen sind; wir haben genug von kohleschwarzen Nächten mit Flugzeugen im Himmel über unserem Zuhause; wir haben es satt, dass unschuldige Bauern in der Pufferzone erschossen werden, weil sie sich um ihr Land kümmern; wir haben genug von den bärtigen Typen, die mit ihren Waffen herumlaufen und ihre Macht missbrauchen, die junge Menschen niederknüppeln oder einsperren, die für das demonstrieren, an das sie glauben; wir sind der „Mauer der Schande“ satt, die uns vom Rest unseres Landes trennt und uns eingesperrt hält in einem Stück Land, das nicht größer ist als eine Briefmarke; wir haben genug davon, dass man uns als Terroristen porträtiert, als hausgemachte Fanatiker mit Sprengstoff in unseren Taschen und dem Bösen in unseren Augen; und wir sind der Gleichgültigkeit überdrüssig, der wir von Seiten der internationalen Gemeinschaft begegnen, von sogenannten Experten, die von Sorge reden und immer neue Resolutionen entwerfen, aber Feiglinge sind, wenn es darum geht, etwas von dem umzusetzen, worüber sie sich geeinigt haben; wir sind es leid und müde, dass wir so ein beschissenes Leben führen, von Israel in einem Gefängnis gehalten, von der Hamas verprügelt und vom Rest der Welt vergessen.

Jeden Schritt müsse man sich genau überlegen und gut aufpassen, überall gebe es Beschränkungen, manchmal könne man noch nicht einmal mehr daran denken, was man wolle, denn die Besatzung habe auch die Köpfe und Herzen besetzt, auf eine so schreckliche Weise, „dass es wehtut und Tränen der Frustration und der Wut erzeugt“.

Here in Gaza we are scared of being incarcerated, interrogated, hit, tortured, bombed, killed.

Drei Frauen und fünf Männer haben das Manifest verfasst, Studenten, aus der säkularen Schicht; sie würden sich als „nicht- politisch“ bezeichnen, und, wie aus den obigen Zitaten bereits deutlich hervorgeht, als angewidert von den Spannungen und Rivalitäten, die die Palästinenser zwischen Hamas und der Fata aufteilen: "Politics is bollocks, it is screwing our lives up. Politicians only care about money and about their supporters. The Israelis are the only ones benefiting from the division."

Einen wichtigen Anstoß für das Manifest soll laut einem Guardian- Bericht die Schließung der unabhängigen Sharek-Jugenzentren Ende November durch die Hamas geliefert haben. Auch Hamas-Vertreter räumen laut Zeitung ein, dass ihre Polizisten zu fanatisch vorgehen.

There are no laws prohibiting men and women sitting together in public places in Gaza.But some policemen at their own initiative interrogate the couples. Those policemen should be punished.

Bei Facebook steht das „Gaza Youth-Manifest für den Wechsel“ unter dem Namen "Gaza Youth breaks out", 8.100 Personen gefällt das, steht dort auf deutsch zu lesen. Viele Menschenrechtler seien darunter, so der Guardian, der an eine wichtigere Zahl erinnert: mehr als die Hälfte der 1,5 Millionen Bewohner des Gazastreifens sind unter 18. Gut möglich, dass es darunter nicht wenige gibt, die ähnlich oder genau so denken wie die fünf Autoren des Manifests. Deren Ziele sind einfach formuliert:

Wir wollen drei Dinge. Wir wollen frei sein. Wir wollen ein normales Leben führen können. Wir wollen Frieden.

Ob man damit zuviel verlange, fragen die Autoren am Schluss ihres Manifests. Sie bezeichnen sich als Friedensbewegung aus jungen Bewohnern des Gaza-Streifens, die sich Gehör verschaffen will. Da es eine Stimme ist, die sich auch gegen Brutalitäten und das repressive Sitten- und Regeldiktat der islamistischen Hamas empört, vergrößert das ihre Chancen von der anderen Seite gehört zu werden. Und es gilt, dass Erfahrungen, die keiner Orthodoxie zu- oder untergeordnet werden, zunächst von ihrer Neuigkeit im Positionenspiel profitieren.

Doch wird das wohl schnell instrumentalisiert werden von den Interressen der großen Konfliktparteien, die sich in ihren Streitpositionen verschanzt haben und kein Jota preisgeben. Glaubt noch jemand an die Hoffnungen, die Netanjahu und Abbas neuerdings wieder an den Friedensprozess knüpfen: Dass der Friede in zwei Monaten zu machen sei?