Ein Gespenst geht auf Tuchfühlung

Linkspartei-Chefin Gesine Lötzsch sucht neue Wege zum Kommunismus - und sorgt für Empörungsreflexe auf fast allen Seiten

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Hermann Gröhe hat es ja immer gewusst. "Die Linkspartei ist und bleibt die Erbin der SED", sagte der Generalsekretär der CDU am Mittwoch dieser Woche und warnte vor weitreichenden Umsturzplänen. Den unbelehrbaren Verfassungsfeinden gehe es, getrieben von "skandalöser Kommunismussehnsucht", nur um die taktische Nutzung der "freiheitlichen Ordnung", das Fernziel sei aber die "Überwindung unseres politischen Systems".

Verfassungsschutz her - oder an den Kopf fassen

Gröhes Kollege Alexander Dobrindt, Generalsekretär der Schwesterpartei CSU, fordert deshalb umgehend politische Konsequenzen. Wer "außerhalb unserer Verfassung" steht, darf nicht länger ohne Aufsicht bleiben.

Die Linkspartei muss jetzt unbedingt wieder flächendeckend in ganz Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet werden.

Alexander Dobrindt

"Auf Sicht" sei sogar ein Verbotsverfahren gegen die Linkspartei vor dem Bundesverfassungsgericht denkbar, spekulierte Dobrindt auf der CSU-Klausurtagung in Wildbad Kreuth.

Ganz so weit wie das furchterregend blasse, auf Signalfarben deshalb umso heftiger reagierende Unions-Duo wollen die Sozialdemokraten nicht gehen, doch auch der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, ist rechtschaffen empört über einen vielerorts realen und mancherorts potenziellen Koalitionspartner seiner Partei.

Mit dem Porschefahrer und Salonbolschewisten Klaus Ernst und der Fernziel-Kommunistin Gesine Lötzsch haben die Linken jetzt gleich zwei Bruchpiloten an der Spitze.

Thomas Oppermann

Oppermanns Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier entdeckt derweil seltene Momente der Volkstümlichkeit und erklärt in der aktuellen Ausgabe einer deutschen Tageszeitung schlicht und ergreifend: "Ich fass mir an den Kopf."

Wenn sich ein gescheiterter Kanzlerkandidat an den Kopf fasst, sollte Entscheidendes passiert sein, und das turbulente Rauschen im Blätterwald signalisiert denn auch einen Tabubruch, wie ihn die neu ernannten "Wutbürger" in der unbeirrten Beschaulichkeit des politischen Tagesgeschäfts nur selten erleben. Doch hat sich wirklich Unfassbares ereignet?

Viele Wege führen zum Ziel …

Eigentlich geht es nur um einen Artikel von Gesine Lötzsch. Viele Bundesbürger wissen mangels aufmerksamkeitsökonomischer Masse gar nicht, wer sich hinter diesem Namen verbirgt. Doch den Eingeweihten ist selbstredend nicht entgangen, dass es sich um die relativ neue Vorsitzende der Linkspartei handelt, die bis dato den positiven Gegenpol zu ihrem in unerfreuliche Schlagzeilen geratenen Amtskollegen Klaus Ernst bilden sollte.

An dieser – allemal simplen - Herausforderung ist Gesine Lötzsch nun offenbar gescheitert, weil sie am Montag einen Gastbeitrag in der politisch einschlägig vorbelasteten Zeitung junge welt veröffentlicht hat. Schlimmer noch: Der Artikel trägt den Titel "Wege zum Kommunismus", plädiert für eine "radikale Realpolitik" und sucht zu allem Überfluss nach der "Perspektive einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus", die in ein unerlaubtes K-Wort mündet.

Die Wege zum Kommunismus können wir nur finden, wenn wir uns auf den Weg machen und sie ausprobieren, ob in der Opposition oder in der Regierung. Auf jeden Fall wird es nicht den einen Weg geben, sondern sehr viele unterschiedliche Wege, die zum Ziel führen.

Gesine Lötzsch

Und noch schlimmer. Die lange Zeit so verbindliche Linken-Chefin skizziert ein Horrorszenario, in dem die freiheitliche Grundordnung überfordert wird und die soziale Marktwirtschaft als alleinseligmachende Gesellschaftsformation nicht mehr greift.

Angenommen, der Euro geht als Währung in den nächsten zwei Jahren unter, die Europäische Union zerbricht, die USA kommen nicht aus der Wirtschaftskrise und fallen bei den nächsten Präsidentschaftswahlen in die Hände von radikal-fundamentalistischen Christen. Das Klima verändert sich dramatisch, der Golfstrom kühlt ab, die Flüchtlingsströme überrennen die "Festung Europa", und wir werden gefragt, ob wir für diesen verworrenen Problemhaufen eine Lösung haben. Wer behauptet, daß er für dieses Szenario eine Strategie in der Schublade hat, der ist ein Hochstapler.

Gesine Lötzsch

Der Kontext des Lötzsch-Artikel liefert ebenfalls reichlich Anlass zur Kritik. Handelt es sich doch um den Vorabdruck eines Beitrags zur Rosa-Luxemburg-Konferenz, die am Samstag in Berlin stattfinden wird und sich nun wohl eines ungewohnten öffentliches Interesses erfreuen darf. An der Podiumsdiskussion "Wo bitte geht's zum Kommunismus? Linker Reformismus oder revolutionäre Strategie – Wege aus dem Kapitalismus" sollen neben der Vorsitzenden der Linkspartei unter anderem auch die DKP-Vorsitzende Bettina Jürgensen, Claudia Spatz von der Antifa Berlin und das frühere RAF-Mitglied Inge Viett teilnehmen.

Was der entrüsteten Parteikonkurrenz infolge des vergleichsweise umfangreichen Artikels aber offensichtlich entgeht, ist der Umstand, dass Lötzsch keineswegs eine Reanimierung der DDR, der Sowjetunion oder eine Neuorganisation der Gesellschaft nach dem Vorbild Chinas, Kubas oder Nordkoreas fordert, sondern eine Rückbesinnung auf die Linken-Ikone Rosa Luxemburg.

Eine Gesellschaft ohne Freiheit wäre für sie nur ein neues Gefängnis gewesen, so wie ihr eine Gesellschaft ohne Gleichheit immer nur eine Ausbeutergesellschaft war. (…) Deswegen konnte der sowjetische Parteikommunismus sich am Ende genauso wenig mit ihr versöhnen wie der bürgerliche Liberalismus. (…) Und genau deswegen ist sie für die Partei Die Linke eine der wichtigsten Bezugspersonen in der Geschichte der Arbeiterbewegung.

Gesine Lötzsch

Missglücktes Manöver

Historisches Fingerspitzengefühl und politischen Instinkt wird man Gesine Lötzsch freilich selbst dann nicht attestieren können, wenn man ihre Ausführungen differenzierter betrachtet als die Herren von CDU und CSU. Kein Wunder also, dass die 49-Jährige auch in den eigenen Reihen für Irritationen sorgt und die Genossen zu allerlei Interpretationskunststücken zwingt. Dabei gehört die Feststellung des thüringischen Fraktionschefs Bodo Ramelow, der Kommunismus sei - vor allem in Westdeutschland - ein "hoch besetztes Angstwort", sicher zu den Spitzenleistungen der mal verunsicherten, mal peinlich berührten Deutungsakrobatik.

Gesine Lötzsch, die in ihrem Beitrag weder auf die historischen Erscheinungsformen, die Millionen Opfer und schwersten Menschenrechtsverletzungen selbsternannter kommunistischer Systeme noch darauf eingeht, wie ihr wiederentdecktes Fernziel konkret aussehen soll, fühlt sich nun zu Richtigstellungen veranlasst. "Die Linke ist linkssozialistisch, wir sind und werden keine kommunistische Partei. Und ich werde auch kein Mitglied der kommunistischen Plattform", schwört die Parteichefin. Wer wissen möchte, welchem Zweck die K-Aktion dann überhaupt dienen sollte, bekommt immerhin eine bemerkenswert ehrliche Antwort. Eigentlich wollte Lötzsch nur "diejenigen für die Linke gewinnen, die unsere Partei für zu angepasst halten".

Dass eine promovierte Wissenschaftlerin und Spitzenpolitikerin keine anderen Möglichkeiten hat, um diesen Nachweis anzutreten, ist bezeichnend genug. Die anhaltenden Probleme ihrer Partei dürften sich (gewissermaßen "zur Strafe", so denn ein Verbot durch das Bundesverfassungsgericht noch etwas auf sich warten lässt) nach dem Aufruhr zu Jahresbeginn weiter verschärfen. Seit Monaten stagniert die Linke in der Wählergunst, realistische Aussichten auf eine Regierungsbeteiligung nach den anstehenden Urnengängen gibt es kaum, und die Mitgliederzahl liegt nur noch bei gut 75.000.

Im vergangenen Jahr hat die Partei nach Aussage von Bundesgeschäftsführer Werner Dreibus rund 2.500 Anhänger verloren. An der nötigen Begeisterung fehlte es ihnen ebenso wenig wie an der richtigen Einstellung. Sie waren nur nicht so langlebig wie das Gespenst des Kommunismus. Laut Dreibus habe man "vor allem in den Ost-Landesverbänden Rückgänge durch Sterbefälle" registrieren müssen …

Hätte, wäre, wenn …

"Gesine Lötzsch steht wie die gesamte Partei auf dem Boden von Demokratie und Grundgesetz. Bei Herrn Dobrindt kann man sich da nicht so sicher sein." Fabuliert Amtskollege Klaus Ernst, der sich selbstredend auch noch in die Diskussion einschalten musste. Dabei verläuft der politische Schlagabtausch schon auf dem flachen, jederzeit vorhersehbaren Niveau, das für die Auseinandersetzungen der Mandatsträger und Parteifunktionäre so bezeichnend und für die Öffentlichkeit so ermüdend ist.

Hätte sich Gesine Lötzsch doch darauf konzentriert, die Rahmenbedingungen und Zielsetzungen einer "radikalen Realpolitik" aufzuzeigen und die "Perspektive einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus" näher zu beschreiben. Zum Beispiel mit dem Hinweis auf den – selbst vom potenziellen Klassenfeind ansatzweise zugestandenen – Mangel an sozialer Gerechtigkeit, der in Deutschland, beim vermeintlichen Musterschüler der Krisenbewältigung, zu den anhaltenden strukturellen Problemen gehört.

Eine ertragreichere Debatte hätte freilich auch von der Gegenseite initiiert werden können. Wenn die Konkurrenz, die noch immer dem Vier-Parteien-System nachtrauert, endlich bereit wäre, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Linkspartei zu suchen. Diese Bereitschaft würde allerdings das Zugeständnis voraussetzen, dass die "freiheitliche Grundordnung", auf der "unser politisches System" basiert, ständig weiter entwickelt und optimiert werden muss, um auf neue Herausforderungen reagieren zu können.

Aber das sind zu viele Konjunktive für ein Jahr, in dem einfache, plakatgerechte Botschaften Priorität haben. Schließlich stehen in den kommenden Monaten sechs Landtags- und zwei Kommunalwahlen auf dem Programm.