Arbeiten auf Abruf

Die neuen Geschäftsmodelle der Wirtschaft funktionieren auch in Ländern, die sich gar nicht mit ausgefeilten Kündigungsschutzbestimmungen abgeben müssen

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Seit Monaten bastelt die Bundesregierung an einem Gesetz zur Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung. Immerhin sind auch den Kabinettsmitgliedern, allen voran Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, "Fälle des missbräuchlichen Einsatzes" bekannt geworden, die durch die bisherigen gesetzlichen Bestimmungen oder Vereinbarungen der Tarifpartner "nicht zu unterbinden" seien.

Opposition und Gewerkschaften gehen die Überlegungen der Bundesregierung allerdings nicht weit genug. Die Eindämmung des sogenannten Drehtüreffekts, mit dessen Hilfe Stammbeschäftigte entlassen und dann als Zeitarbeitskräfte zu schlechteren Bedingungen wieder eingestellt werden, modelliert ihrer Einschätzung nach nur die Spitze des Eisbergs.

Auch der aktuelle Gesetzentwurf werde den Abbau von Stammarbeitsplätzen und die Ausdehnung des Niedriglohnsektors weiter beschleunigen, meint Detlef Wetzel, zweiter Vorsitzender der IG Metall:

Wir brauchen eine Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, mit dem der Anspruch auf gleiche Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit endlich Realität wird. Die Möglichkeit, von diesem Grundsatz abzuweichen, muss aus dem Gesetz gestrichen werden.

Detlef Wetzel

Nur dann, so Wetzel, könne die Leiharbeit die ihr ursprünglich zugedachte Funktion – "vorübergehenden Personalbedarf zu decken" – erfüllen.

Nach Ansicht der zuständigen Ministerin, die lieber von "Zeitarbeit" spricht, sind die allemal prekären Beschäftigungsverhältnisse dieser Aufgabe, abgesehen von bedauerlichen Ausnahmefällen, bereits gerecht geworden. Mitte Dezember dozierte Ursula von der Leyen:

Die Zeitarbeit hat die deutsche Wirtschaft flexibler und unseren Arbeitsmarkt stärker gemacht. Die Erfahrung zeigt: Im Aufschwung steigt zuerst die Zahl der Zeitarbeiter. Das ist gerade für viele Geringqualifizierte eine Brücke in Beschäftigung, wenn Arbeitgeber Personal brauchen, um Auftragsspitzen abzufangen.

Ursula von der Leyen

Vorteile für Arbeitgeber

Die Möglichkeit, "vorübergehenden Personalbedarf zu decken" und "Auftragsspitzen abzufangen", das ist die eine Argumentationssäule, auf die sich Befürworter der Leiharbeit berufen. In einem Land, das seine immer wieder gelockerten, insgesamt aber umfangreichen Bestimmungen zum Kündigungsschutz als sozial- und wirtschaftspolitische Errungenschaft betrachtet, bleibe den Arbeitgebern keine andere Chance, um flexibel auf die sich ständig verändernden Rahmenbedingungen zu reagieren.

In Volkswirtschaften ohne solche Regelungen, dürfte die Leiharbeit demnach keine besondere Rolle spielen, doch die Realität sieht anders aus. Eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt, dass beispielsweise auch in Dänemark das Thema Arbeitnehmerüberlassung eine immer größere Bedeutung gewinnt. Zwischen 1997 und 2006 hat sich die Leiharbeitsquote von 0,2 auf 0,8 Prozent vervierfacht und so eine noch größere Dynamik entfaltet als im EU-Durchschnitt. Hier konstatierte der internationale Verband der Zeitarbeitsunternehmen, der sich nicht an Personen, sondern an geleisteten Arbeitsstunden orientiert, zwischen 1997 und 2008 eine Verdoppelung von 1,0 auf 2,0 Prozent.

Die Autoren der Untersuchung - Elke Jahn vom Forschungsbereich "Arbeitsförderung und Erwerbstätigkeit" im IAB und Michael Rosholm, Professor am Institut für Volkswirtschaftslehre der Aarhus University - konstatieren beim Vergleich der deutschen und dänischen Situation allerdings eine Reihe wesentlicher Unterschiede. Die große Mehrheit der Leiharbeitsverhältnisse in Dänemark werde durch Tarifverträge geschützt. Außerdem seien rund 80 Prozent der Leiharbeiter gewerkschaftlich organisiert und verdienten aufgrund des angespannten Arbeitsmarktes mitunter sogar mehr als ihre regulär beschäftigten Kolleginnen und Kollegen.

Kündigungsfristen seien jedoch in den seltensten Fällen vorgesehen, sodass Leiharbeiter damit rechnen müssten, "von heute auf morgen" wieder auf der Straße zu stehen. Überdies kämen sie in der Regel nicht in den Genuss von Sozialleistungen wie Mutterschutzregelungen, Urlaubsansprüchen oder Pensionszahlungen. Schrankenlose Flexibilität nach dem Motto "hire and fire" steht deshalb auch bei den dänischen Arbeitgebern hoch im Kurs.

Branchen- und betriebsspezifisches Humankapital, Stigmatisierungseffekte und Informationsasymmetrien

Auf der zweiten Argumentationssäule stehen die Segnungen, von denen die Leiharbeiter selbst profitieren sollen. Ihnen werde durch eine vorübergehende Beschäftigung der Weg in den ersten Arbeitsmarkt gebahnt, schwören die Befürworter. Die IAB-Studie spricht im euphemistischen Slang der Zeit von der Möglichkeit, "branchen- und betriebsspezifisches Humankapital" aufrechtzuerhalten oder aufzubauen und Kontakte zu potenziellen Arbeitgebern zu knüpfen.

Ab und an soll das funktioniert haben, behauptet der CDU-Bundestagsabgeordnete Peter Tauber, der den Widerstand gegen die Leiharbeit unter anderem auf fehlende "Positivbeispiele" zurückführt und einige namenlose Exempel in die Runde wirft.

Ich habe Freunde und Bekannte, die über das Instrument Zeitarbeit ein festes unbefristetes Arbeitsverhältnis bekommen haben. Sie sind froh, dass sie diese Chance hatten, wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Deswegen ist es richtig, dass wir an diesem arbeitsmarktpolitischen Instrument festhalten.

Peter Tauber, CDU

Jahn und Rosholm verweisen darauf, dass in Dänemark vor allem "Problemgruppen des Arbeitsmarkts wie Einwanderer und Sozialhilfeempfänger" von der Leiharbeit profitiert hätten. Ihre Aussichten, der Beschäftigungslosigkeit mittelfristig oder dauerhaft zu entkommen, seien sogar günstiger als die der einheimischen Arbeitskräfte.

Beinahe alle geschätzten Effekte liegen weit über denen für Einheimische. Zwar ist nicht bekannt, ob diese Personengruppe beim Entleiher kleben bleibt oder eine Stelle bei einem anderen Arbeitgeber findet, doch ist davon auszugehen, dass die Wahrscheinlichkeit höher ist als bei den Arbeitslosen, die zunächst in offene Arbeitslosigkeit zurückgehen. Dies lässt die Interpretation zu, dass Zeitarbeit eine Möglichkeit ist, Stigmatisierungseffekte oder Informationsasymmetrien abzubauen, die z. B. infolge der ethnischen Herkunft bestehen. Demnach scheint Zeitarbeit eine gute Chance zu sein, die wahre Produktivität unter Beweis zu stellen.

IAB-Studie

Doch die IAB-Forscher konzedieren auch Schattenseiten. Für ältere Arbeitslose lasse sich kein positiver Effekt feststellen, und überhaupt seien Arbeitslose im Durchschnitt nur etwa fünf Wochen bei einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt. Außerdem nehme die Übergangsrate in eine reguläre Tätigkeit bei steigender Arbeitslosigkeit deutlich ab.

Die Branche boomt

Wenn die Konjunktur anspringt, müsste sich die Lage anders darstellen, aber das ist offensichtlich nicht der Fall.

Die Sprungbrettfunktion von Zeitarbeit ist stark prozyklisch. In Arbeitsmärkten mit niedriger Arbeitslosenquote – wie dem dänischen – nutzen Unternehmen Zeitarbeit, um Arbeitslose unverbindlich zu testen.

IAB-Studie

Der spürbare wirtschaftliche Aufschwung hilft den Leiharbeitern derzeit auch in Deutschland ebenso wenig wie der angebliche Fachkräftemangel oder juristische Klarstellungen des Bundesarbeitsgerichts, das der "Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen" im Dezember kurzerhand die Tariffähigkeit aberkannte.

Im vergangenen Oktober waren über 900.000 Menschen als Zeitarbeitnehmer tätig. "Unsere Branche hat ein äußerst erfolgreiches Jahr hinter sich. Innerhalb der letzten zwölf Monate ist die Zeitarbeit um 39 Prozent gewachsen", freute sich Volker Enkerts, Präsident des Bundesverbandes Zeitarbeit Personal-Dienstleistungen e.V.

Von gleichen Arbeitsbedingungen oder gleicher Bezahlung sind die befristeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hierzulande aber noch immer weit entfernt. "Großzügige" Angebote wie das jüngste von CDU-Fraktionsvize Michael Fuchs nützen da wenig. "Nach 12 Monaten muss für Zeitarbeit dasselbe gezahlt werden. Sonst ist es nichts anderes als der Versuch von Arbeitgebern, sich billige Löhne zu sichern", erklärte der Wirtschaftsexperte, der vor zwei Jahren noch behauptet hatte, es sei nicht die Aufgabe der Politik, "die Tarifkonkurrenz auszuschalten".

Fuchs übersah allerdings, dass sein Vorschlag nur etwa 13 Prozent der Betroffenen zugute kommen würde. Laut einer im Juni 2010 veröffentlichten IAB-Studie endet über die Hälfte der Beschäftigungsverhältnisse bereits innerhalb von drei Monaten.

Dabei forderte kurz vor Weihnachten sogar Dieter Hundt energische Maßnahmen, um Lohndumping in der Zeitarbeit – insbesondere nach Inkrafttreten der neuen Regelungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit im Mai 2011 – zu verhindern.

Der phantasiebegabte Arbeitgeberpräsident sah am Horizont bereits ein deutsches Zeitarbeitsunternehmen auftauchen, das in Polen eine Filiale eröffnet, dann Arbeitnehmer aus Deutschland anwirbt und diese "auf Basis eines polnischen Tarifvertrags mit vier oder fünf Euro Stundenlohn" wieder in Deutschland einsetzt.

Von Dänemark lernen …

"Welche Implikationen ergeben sich für Deutschland?", fragt die Dänemark-Studie des IAB und fasst die Vorteile, die sich für Unternehmen aus der Arbeitnehmerüberlassung, gerade auch in Zeiten wirtschaftlicher Konsolidierung ergeben, im letzten Kapitel noch einmal bündig zusammen.

Ist der Arbeitsmarkt angespannt und treffen bei Firmen mit offenen Stellen nur wenige Bewerbungen ein, nutzen sie Zeitarbeitsfirmen, um passende Arbeitslose zu rekrutieren. Letztere haben gerade in angespannten Arbeitsmärkten – wenn die Beurteilung der Fähigkeiten und Kenntnisse der im Arbeitslosenpool verbleibenden Personen teurer ist – niedrigere Einstellungskosten. Stellt sich der Leiharbeiter als geeignet für das Kundenunternehmen heraus, wird er direkt übernommen. Auf diese Weise kann eine Firma nicht nur Einstellungskosten senken, sondern auch negative Reputationseffekte vermeiden, die entstehen, wenn sie einen vormals Arbeitslosen wieder entlässt.

IAB-Studie

Jahn und Rosholm sehen derzeit auffällige Parallelen zwischen der Entwicklung auf dem deutschen und dänischen Arbeitsmarkt. Die hiesige Arbeitslosenquote bewege sich auf das vergleichsweise niedrige Niveau des nördlichen Nachbarn zu, überdies klagten Unternehmen in beiden Ländern über die Schwierigkeit, "offene Stellen mit geeigneten Bewerbern zu besetzen". Deshalb sei es keineswegs auszuschließen, dass deutsche Arbeitgeber die Zeitarbeit künftig noch stärker als bisher nutzen, "um geeignete Kandidaten aus dem Pool der verbleibenden Arbeitslosen zu akquirieren und Einstellungskosten zu senken".

Dann könnte auch die bislang oft nur vermutete "Sprungbrettfunktion von Zeitarbeit stärker zum Tragen kommen". Sicher sei diese Annahme allerdings keineswegs.