10 Jahre Wikipedia - gleißendes Licht und aufziehende Schatten

Wikipedia ist zweifelsohne das berühmteste und erfolgreichste nichtkommerzielle Netzprojekt. Aus dem idealistischen Experiment wurde eine stehende Größe. Auf ihrem Zenit steht die Wikipedia nun vor notwendigen Richtungsentscheidungen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Als das Netz noch jung war, gebar es Legenden. Eine der schönsten Legenden der digitalen Gründerzeit erzählt die Geschichte des Wikipedia-Projekts. In den 90ern lernten sich der erfolgreiche Börsenhändler und Internetpionier Jimmy Wales und der Philosophie-Doktorand Larry Sanger in den chaotischen Welten des Usenets kennen. Aus ihren philosophischen Disputen erwuchs die Idee, gemeinsam im Netz eine freie Sammlung des Weltwissens zu organisieren.

Im Jahre 2000 war es dann so weit. Wales, der mittlerweile sein Geld mit einem Online-Männermagazin namens Bomis verdiente, erklärte sich bereit, ein Projekt namens Nupedia zu finanzieren. Der erste Chefredakteur von Nupedia wurde Larry Sanger. Doch bereits kurz nach dem Startschuss kam es zwischen den beiden Usenet-Philosophen zu einem grundlegenden Richtungsstreit.

Klasse oder Masse?

Sanger legte größten Wert auf Akkuratesse und wissenschaftlichen Anspruch. Artikel für die Nupedia wurden einem siebenfachen Peer-to-Peer-Sichtungsverfahren unterzogen, schreibberechtigt waren ausschließlich anerkannte Experten und für Korrekturleser war es obligatorisch, dass sie zumindest in ihrem Fachgebiet promoviert haben sollten. Klasse statt Masse, im ersten Jahr brachte es die Nupedia lediglich auf 20 Artikel und wurde vom Netz komplett ignoriert.

Jimmy Wales war zwar ebenfalls ein Idealist, Sangers absurd hohe Qualitätsanforderungen und den damit verbundenen quantitativen Mangel an Inhalten wollte Wales jedoch nicht dauerhaft finanzieren. Da kam Wales eine Softwarelösung, die ausgerechnet Larry Sanger als "Vorstufe" für die Nupedia implementiert hatte, wie gerufen: Mit der Wiki-Software "UseModWiki" verfügte die Nupedia Anfang 2001 über ein Werkzeug, das es den Lesern selbst ermöglichte, Artikel einzustellen oder abzuändern. Heute vor zehn Jahren - am 15. Januar 2001 - stellte Wales parallel zur erfolglosen Nupedia das neue Projekt Wikipedia ins Netz. Natürlich ahnte damals niemand, welche Folgen dies haben wird.

Ohne Larry Sangers Qualitätsrichtlinien - und mit einem halbwegs bedienbaren Frontend - wuchs die Wikipedia in rasanter Geschwindigkeit. Nach nur einem Monat umfasste die Wikipedia bereits 600 Artikel, nach einem Jahr waren es schon 20.000. Sanger, der zu Beginn auch als Chefredakteur von Wikipedia bezahlt wurde, konnte sich von Beginn an nicht mit der Idee einer selbstverwalteten Community ohne fachliche Qualifikation anfreunden und wurde schließlich ein Jahr später von Jimmy Wales gefeuert.

Ihr Streit über Urheberrechtsfragen dauert bis heute an. Auch der Streit über Qualitätsrichtlinien, Moderation, Relevanz und Sichtungskriterien ist immer noch aktuell, hat aber mittlerweile einen ganz anderen Stellenwert bekommen. Die Wikipedia ist durch Wales Strategie des Mitmachlexikons quantitativ groß geworden, die Frage, ob und wie das Online-Lexikon nun auch qualitativ groß werden kann, entzweit indes die Gemeinde.

Die Nordsee ist ein Mehr, ein teil der Atlant, zwischen Grossbritannien, Skandinavien, und Friesland. Siehe auch Kattegatt, die Niederlanden, Deutschland.

(Vollständiger Wikipedia-Eintrag zum Lemma "Nordsee" am 17. Mai 2001)

Gleißendes Licht ...

Zehn Jahre Wikipedia sind auch eine zehnjährige Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht. Bei aller Detailkritik muss man der Wikipedia zugestehen, dass sie es geschafft hat, ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil des digitalen Zeitalters geworden zu sein, der den Idealen der freien Zugänglichkeit, der Werbefreiheit und der Freiheit von Copyright-Beschränkungen treu geblieben ist. Heute gibt es die Wikipedia in mehr als 260 Sprachen, weltweit greifen jeden Tag ungefähr 400 Millionen Besucher auf die Enzyklopädie zurück und in englischer Sprache gibt es unfassbare 3,5 Millionen Einträge.

Schüler nutzen die Wikipedia für Referate, Otto Normalverbraucher nutzt sie als kostenloses Nachschlagewerk und so manche Zeitung und die meisten Online-Magazine wären wohl bis auf Agenturmeldungen leer, wenn die Wikipedia mal eine Woche streiken würde. Der Erfolg der Wikipedia ist jedoch auch gleichzeitig eine Bürde. Neben Google ist wohl kein anderes Netzprojekt so wichtig wie die Online-Enzyklopädie. Für viele Nutzer gilt sie irrigerweise als Hort des Wissens und der Wahrheit. Was in der Wikipedia steht, wird als "richtig" und als "wahr" angesehen. Doch diese hohen Ansprüche kann - und will - die Wikipedia in ihrer momentanen Struktur nicht erfüllen.

Rund vier Millionen Menschen nutzen jeden Tag das deutschsprachige Angebot der Wikipedia - pro Stunde wird die Seite bis zu zweieinhalb Millionen mal aufgerufen. Der Anteil der Nutzer, der tatsächlich an der Wikipedia mitarbeitet, ist jedoch verschwindend gering - lediglich 1.000 Nutzer schreiben und editieren regelmäßig aktiv Artikel.

Der technokratische Nukleus der deutschen Wikipedia besteht sogar aus gerade einmal 300 Nutzern, die sich Administratoren nennen dürfen. Noch nie entschieden so wenige über das Wissen so vieler. Für 82 Millionen Deutsche stellt die Wikipedia eine Instanz des Wissens dar. Waren die Stalin-Noten ernst gemeint? Wie sicher ist Atomkraft? Was ist eigentlich Soziale Marktwirtschaft? In all diesen Fragen ist die Wikipedia für viele Deutsche die erste Anlaufstelle. Sie verwaltet nicht nur Wissen, sie entscheidet auch, welches Wissen relevant ist, was zitierfähig ist und was nicht. Doch wer ist "die Wikipedia"? Wenn es um Entscheidungen geht, zählen nicht die Leser, sondern die Administratoren - vom Ideal einer Mitmachenzyklopädie ist die Wikipedia weiter entfernt denn je.

... und aufziehende Schatten

Die Herren der Wikipedia sind größtenteils jung, männlich und technikaffin - kurz "nerdig". Für einen solchen Nerd ist jede Nebenfigur in Star Wars relevant, während andere Themen in seinem Paralleluniversum gar nicht vorkommen. Ein Admin muss auch keine Qualifikation nachweisen, er verlässt sich - eine Web-2.0-Unsitte - auf Quellen, die möglichst offen im Netz verfügbar sind. So kann es vorkommen, dass ein junger Informatiker einem Geschichtsprofessor kurz und schmissig erklärt, dass dessen mühevoll eingestellter Beitrag irrelevant sei. Der Kern der Wikipedia gleicht vielmehr einem technokratischen System. Wenn sich solche Systeme etablieren, kristallisiert sich immer der gleiche Menschentypus heraus, der sich an die Spitze dieser Systeme stellt. In den erlauchten Kreis der Administratoren wird man natürlich nur aufgenommen, wenn man immer brav im systemischen Mainstream schwimmt und sich nicht durch kontroverse Kritik hervortut.

Die Probleme der Wikipedia sind nicht neu und werden seit Jahren kontrovers diskutiert. Eine Patentlösung, wie man die Wikipedia perfektionieren könnte, gibt es nicht. Eine extreme Qualitätsorientierung, wie sie weiland Larry Sanger vorschwebte, ist zum Scheitern verurteilt, da die Masse ein löchriges, aber dafür qualitativ gesichertes Online-Lexikon nicht akzeptiert. Der Misserfolg von Sangers aktuellem Projekt Citizendium, das 2006 mit viel Tamtam gestartet wurde und aktuell über gerade einmal 156 gesichtete Qualitätseinträge verfügt, spricht da Bände. Ein nicht moderiertes Mitmach-Lexikon, in dem jeder frei schalten und walten darf, wäre das andere Extrem. Ein solches Experiment würde schon bald von Horden von Trollen überrannt und hätte somit lediglich als pädagogische Spielwiese eine Daseinsberechtigung.

Zwischen den Extremen

Die Lösung für die Wikipedia muss also in der Mitte der beiden Extreme liegen. Natürlich ist es nicht immer einfach, im "Edit-War" die sachliche Mitte zu finden. Wenn sich beispielsweise FPD-Lokalpolitiker, Soziologen und Informatiker tagelang um eine "neutrale" Formulierung des Begriffs "Neoliberalismus" streiten, gibt es keine Gewinner, sondern nur einen Verlierer: Den Leser.

Die Zeiten der Mitmach-Strategie sind bei der deutschen Wikipedia ohnehin vorbei. Über eine Million Einträge lassen kaum Platz für neue Artikel, Korrekturen an alten Artikeln verschlimmbesseren diese nur allzu oft und auch interessengesteuerte Änderungen sind beileibe keine Ausnahme. Moderationen - so gerechtfertigt sie auch sein mögen - gehen jedoch häufig zu Lasten der Nutzer. Wer einmal einen Artikel verfasst oder geändert hat und dann Minuten später feststellen muss, dass ein Administrator das gut gemeinte Werk mit einem Mausklick wieder gelöscht hat, wird es sich zweimal überlegen, noch weiter an diesem Projekt zu arbeiten. Die nicht besonders nutzerfreundliche Wiki-Software tut ihr Übriges, um mitmachfreudige Neulinge abzuhalten.

Wenn aber frisches Blut ausbleibt und Experten sich nicht von naseweisen Informatik-Bürschlein in ihrem eigenen Fachgebiet belehren lassen wollen, droht der Wikipedia mittel- bis langfristig die innere Degeneration. Hoffen wir, dass sich die Macher der Wikipedia ihrer Verantwortung bewusst sind. Oft hat man den Eindruck, dass der technische Nukleus die Wikipedia als sein eigenes Projekt betrachtet und sich wenig um die Außenwahrnehmung kümmert. Dies widerspricht jedoch den Idealen, die Sanger und Wales vor mehr als zehn Jahren im Usenet erdachten. Die Wikipedia ist Gemeingut, sie gehört nicht den Administratoren, sondern den Nutzern. Es ist Zeit für eine Re-Demokratisierung des Wissens.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.