"Ausgeprägte antikommunistische Haltung"

Wie Nazi-Kriegsverbrecher Klaus Barbie seine rechtsextreme Karriere im Dienste der USA und des BND fortsetzte. Ein Exklusivinterview mit dem Historiker Peter Hammerschmidt (Teil 1)

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Es kommt Bewegung in die Aufarbeitung der Karrieren von Nazi-Kriegsverbrechern nach 1945. Zum ersten Mal hat der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) Akten zum Fall des einstigen SS-und Gestapo-Manns Klaus Barbie freigegeben. Aus diesen Beständen geht hervor, dass Barbie 1966 für den BND arbeitete. Doch dieses Kapitel in der Nachkriegsbiografie des "Schlächters von Lyon", wie Barbie wegen seiner Kriegsverbrechen in Frankreich genannt wird, ist nur ein kleiner Teil der Geschichte.

Der Historiker Peter Hammerschmidt von der Universität Mainz ist dem Lebenslauf Barbies seit Jahren auf der Spur. Gegen anhaltende politische Widerstände gelang es ihm, die deutschen Geheimdienstakten über Barbie im September vergangenen Jahres erstmalig einzusehen. Über einen Teil der darin enthaltenen Informationen berichtet in seiner aktuellen Ausgabe auch der Spiegel. Dank eines Stipendiums der Uni Mainz konnte Hammerschmidt zudem auch Aktenbestände des US-amerikanischen Nationalarchivs (NARA) in Washington sichten. Gemeinsam ergibt sich ein erschreckendes Bild der Nachkriegskarriere eines Massenmörders, der zunächst für die Nazis und dann – im Kalten Krieg – für die USA und die Bundesrepublik gegen den Ostblock kämpfte. Im Interview mit Telepolis spricht Hammerschmidt erstmals über seine Rechercheergebnisse.

Herr Hammerschmidt, der Zweite Weltkrieg wird gerade in den USA als ein gerechter Krieg gesehen, als Krieg gegen den deutschen Faschismus. Nun haben Sie sich mit dem Fall von Klaus Barbie, dem "Schlächter von Lyon" befasst und sind auf widersprüchliche Informationen gestoßen. Was haben Sie herausgefunden?

Peter Hammerschmidt: Schauen wir uns erst einmal die offizielle Geschichtsschreibung an. Die Urteile des Internationalen Militärgerichtshofs im Herbst 1946 gegen die "Hauptkriegsverbrecher" des NS-Regimes hatten ja zumindest in den Augen der internationalen Öffentlichkeit das Ende der Terrorherrschaft über Europa besiegelt. Die Verbrecher wurden vor Ort ihrer gerechten Strafe zugeführt.

Umso größer war der öffentliche Aufschrei, als zu Beginn der 1980er Jahre bekannt wurde, dass NS-Kriegsverbrecher im Zuge der eskalierenden Ost-West-Konfrontation bereits unmittelbar nach Kriegsende zu Figuren im Kampf der USA gegen den internationalen Kommunismus avancierten. Sie wurden von den US-Behörden aktiv vor Strafverfolgung geschützt.

Wie hat sich die Zusammenarbeit konkret entwickelt?

Peter Hammerschmidt: Man folgte der Devise "Der Feind meines Feindes ist mein Freund". Der Geheimdienst der US-Armee, das Army Counter Intelligence Corps (CIC), rekrutierte unmittelbar nach Ende des Krieges zahlreiche gesuchte Kriegsverbrecher. Der CIC war damals völlig desorganisiert. Dem Fraternisierungstrend zwischen den US-Militärs und Nazis lag die Absicht zugrunde, von vermeintlichen Kommunismus-Experten des NS-Regimes umfangreiche Informationen über den neuen Feind im Osten zu bekommen. Der Eiserne Vorhang senkte sich damals ja gerade über Europa. Kurzum: Die Protektion von NS-Verbrechern wurde intern mit der Abwehr von Gefahren für die nationale Sicherheit gerechtfertigt.

So gelang es auch Klaus Barbie, dem "Schlächter von Lyon", in die Dienste der USA zu treten. Im Frühjahr 1946 stand er auf Fahndungslisten der Alliierten. Ab April 1947 stand er auf den Gehaltslisten des CIC.

Auch das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtet aktuell über die Geheimdienstarbeit Barbies nach dem Krieg. Weshalb ist die Person Barbies von Interesse?

Peter Hammerschmidt: Barbie war einer von tausenden Opportunisten aus der zweiten Reihe, an deren Händen Blut klebte. Im Gegensatz zu einer Vielzahl seiner ehemaligen Kameraden, die teilweise in weit einflussreicheren Positionen agierten, machte sich Barbie jedoch zweier Verbrechen schuldig, die noch heute tief im kollektiven Gedächtnis der Franzosen verankert sind. Zum einen ist das die Deportation von 44 Kindern aus dem jüdischen Waisenhaus von Izieu in das Sammellager Drancy und später nach Auschwitz. Zum andere ist es die Ermordung des Résistance-Führers und später zum Nationalhelden erhobenen Jean Moulin. Diese Verbrechen begründeten das enorme öffentliche Interesse der Franzosen am Fall Barbie und machten seine Protektion durch US-Behörden vollends zu einem internationalen Eklat.

Vielleicht aber doch ein bedauerlicher Einzellfall!

Peter Hammerschmidt: Nein, auf keinen Fall, das belegen ja gerade die Ermittlungen des US-Justizministeriums. Erhard Dabringhaus, sein damaliger CIC-Kontrolloffizier, sprach selbst von Barbie als "the tip of the iceberg", der Spitze des Eisbergs. Als der Druck auf die "Hohe Kommission für Deutschland" (HICOG) zunahm, wurde Barbie 1951 die Flucht über die sogenannte Rattenlinie aus Europa nach Südamerika ermöglicht. In Bolivien schuf man ihm eine neue Identität unter dem Namen "Klaus Altmann". Erst den Eheleuten Beate und Serge Klarsfeld war es zu Beginn der 1970er-Jahre gelungen, den NS-Verbrecher in Südamerika aufzuspüren. Es sollte ein weiteres Jahrzehnt dauern, bis der demokratische Wandel in Bolivien Barbies Auslieferung ermöglichte.

Aber nach Barbies Angaben konnte er sich 1946 nur knapp der Festnahme durch die US-Armee entziehen. Das bestätigt auch Allan A. Ryan, der langjährige Leiter der US-Justizbehörde OSI, die auf die Nazi-Jagd spezialisiert war. Widerspricht das nicht Ihren Thesen?

Peter Hammerschmidt: Aus heutiger Sicht vielleicht. Aber versetzen Sie sich in die damalige Lage: Der US-Militärgeheimdienst CIC wurde von den globalpolitischen Entwicklungen überrollt. Der Druck, Strukturen gegen Moskau aufzubauen, war enorm. Was lag da näher, als Informanten anzuwerben, die sich seit Jahren intensiv mit dem Kampf gegen den Kommunismus befasst hatten?

Ein "Übel", das man gerne bereit war zu akzeptieren

Und das machte Barbie zu einem geeigneten Kandidaten?

Peter Hammerschmidt: Der CIC attestierte dem ehemaligen Nazi-Militär eine "ausgeprägte antikommunistische Haltung". Barbie war in ihren Augen für eine Informanten-Rolle geradezu prädestiniert: Er hatte sich als Gestapo-Chef in Frankreich eingehend mit subversiven kommunistischen Elementen "auseinandergesetzt" und die Résistance in Lyon bis Kriegsende nahezu vollständig zerschlagen. Auch die Berichte von Kurt Merk, einem ehemaligen Kameraden Barbies, der bereits Monate zuvor erfolgreich vom CIC angeworben worden war und der nun Barbie an seine Vorgesetzten weiterempfahl, schienen dem CIC in seiner Annahme zusätzlich zu bestärken.

Dass Barbie zu diesem Zeitpunkt aufgrund seiner Foltermethoden gegen Mitglieder der Résistance und aufgrund der von ihm veranlassten Deportation von Juden in Vernichtungslager als Kriegsverbrecher gesucht wurde, war offenbar ein "Übel", das man gerne bereit war zu akzeptieren. Barbies CIC-Mitarbeiter bestätigten in späteren Interviews, dass die Erwartungen in Bezug auf die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse enorm waren.

Fest steht, dass Barbie kommunistische und antikommunistische Aktivitäten in der US-amerikanischen, aber auch in der französischen Zone mit Hilfe von Unteragenten observierte. Aus den vorliegenden Unterlagen geht hervor, dass die CIC-Führungsetage Barbies Berichten große Aufmerksamkeit entgegenbrachte.

Nun hat OSI-Chef Ryan schon 1983 einen Bericht zum Fall Barbie vorgestellt. Darin gestand er die Anwerbung des "Schlächters von Lyon" zwar ein, erklärte aber, dass man damals keine Ahnung von dessen Verbrechen hatte. Halten Sie das für glaubwürdig?

Peter Hammerschmidt: Was Ryan 1983 behauptete und was die internationale Öffentlichkeit offenbar zu akzeptieren bereit war, konnte mittlerweile widerlegt werden. Meine Recherchen und die des amerikanischen Historikers Christopher Simpson belegen deutlich, dass Barbie, als er im April 1947 angeworben wurde, auf Alliierten Fahndungslisten stand. Über diese verfügte selbstverständlich auch das CIC. Des weiteren zeigen Daten aus dem Prozess gegen Rene Hardy, einem Kollaborateur, der Barbie wohl beim Aufspüren Jean Moulins behilflich gewesen war, dass die kommunistische Presse Frankreichs bereits im März 1947, einen Monat vor Barbies Rekrutierung durch den CIC, über dessen Kriegsverbrechen berichtet hatte.

Die Rolle des "Schlächters von Lyon" in Südamerika

1983 sagte der damalige bolivianische Innenminister Gustavo Sánchez Salazar: "Mein Land hat Menschenleben seinetwegen verloren. Mit ihm sind Foltermethoden eingekehrt. Barbie hat seinen europäischen Krieg auf bolivianisches Territorium übertragen." Welche Rolle spielte Barbie in Bolivien?

Peter Hammerschmidt: Anders als viele seiner flüchtigen Kameraden, begnügte sich Barbie nicht damit, unter falschem Namen in Südamerika unterzutauchen – im Gegenteil: Nach dem Militärputsch von General René Barrientos Ortuño im Jahre 1964, hatten sich Barbies Beziehungen zu einflussreichen Offizieren der bolivianischen Armee derart verfestigt, dass er selbstbewusst in der Öffentlichkeit auftreten konnte.

Neben seinem Einfluss vergrößerte sich sein Vermögen. 1979 erinnerte sich Barbie in dem Gespräch mit dem ehemaligen SS-Obergruppenführer, General Karl Wolff, dass er zum ersten Mal zum "Kriegsgewinnler" geworden war: Im Zuge des Vietnamkrieges verkaufte Barbie Unmengen von China-Rinde – den Rohstoff für das Schmerzmittel Chinin – an das deutsche Chemieunternehmen Böhringer Mannheim.

Aber Klaus Barbie war in Bolivien doch wohl mehr als der Vertreter eines Pharmaunternehmens?

Peter Hammerschmidt: Durchaus, denn zu diesem Zeitpunkt hatte die bolivianische Regierung unter Barrientos längst von Barbies Geheimdienst-Fähigkeiten Gebrauch gemacht. Im Hauptquartier der Armee erteilte er Mitgliedern des militärischen Geheimdienstes "Lehrstunden" für den Kampf gegen die politische Opposition. Diese Lektionen erstreckten sich auf Themen wie "Verhörtechniken", "Folter" und "Anti-Guerilla-Maßnahmen". Unter der neuen Regierung war Barbie 1964 zum Militärberater für Aufstandsbekämpfung geworden. Er erhielt Büros im bolivianischen Innenministerium, in der Abteilung des zivilen Geheimdienstes, und auf dem Flughafen von La Paz.

Später stellte Barbie auch die 1966 gegründete und ihm unterstehende staatliche Schifffahrtsfirma "Transmaritima Boliviana" in die Dienste der bolivianischen Militärs. Dank eines 1966 ausgestellten Diplomatenpasses bereiste er Ende der sechziger Jahre Peru, Brasilien, Spanien, Portugal, Mexiko und Argentinien. Barbie belieferte südamerikanische Militärdiktaturen mit internationalen, vor allem jedoch europäischen Waffen.

Welche Kenntnisse hatte die Führung in Washington damals von diesen Geschäften? Lateinamerika war ja zwischen den USA und der Sowjetunion massiv umkämpft.

Peter Hammerschmidt: Der Beweis, dass die CIA diese Waffengeschäfte offiziell unterstützte, ist nicht vollends zu erbringen. Ein im Rahmen des Nazi War Crimes and Disclosure Act freigegebenes Memorandum, das das US-Heeresamt am 18. Februar 1967 an den US-Geheimdienstdirektor richtete, beweist lediglich, dass die CIA über ausführliche Kenntnisse in Bezug auf Barbies Waffengeschäfte verfügte und diese stillschweigend akzeptierte.

Dabei muss Barbie doch als ausgemachter Antikommunist und nun auch noch als erfahrener Geheimagent ein gefragter Mann gewesen sein. Welche Rolle spielte während der Kämpfe zwischen rechten und linken Akteuren in Lateinamerika?

Peter Hammerschmidt: Im August 1971 betonte Machthaber Hugo Banzer im Präsidentenpalast, sein Regime sei entschlossen, den Kommunismus zu zerschlagen. Barbie stand zu diesem Zeitpunkt wieder in engem Kontakt mit Behörden des US-Geheimdienstes und versorgte diese mit Informationen über gesuchte sowjetische und kubanische Agenten in Südamerika. Das steht trotz der Dementis Ryans außer Frage: Barbie war nach Banzers blutigem Putsch 1971 unter der neuen Regierung zu einem bezahlten Berater des Innenministeriums und der Gegenspionage der bolivianischen Armee aufgestiegen. Später bestätigte der bolivianische Innenminister Sánchez Salazar, dass Barbie enge Kontakte mit dem Dogenbaron Roberto Suárez unterhielt.

Handelte Barbie Ihren Erkenntnissen nach denn alleine oder gab es Kontakte zu anderen Nazi-Flüchtlingen? Südamerika war ja damals so etwas wie ein Sammelbecken für deutsche Faschisten.

Peter Hammerschmidt: Es gab eine immer größer werdende Gruppe von Neofaschisten, die regelmäßig in der Bierstube "Bavaria" in Santa Cruz zusammenkamen. Sie hatten Barbie als Führungsperson auserkoren. Im Februar 1980 verpflichtete er sich, paramilitärische Gruppen zu unterstützen und der bolivianischen Armee auf geheimdienstlichem Gebiet bedingungslos zu Diensten zu sein. Er musste sich fortan auch an jeder Art von Abwehroperation beteiligen.

Ein im Rahmen meiner Recherchen aufgetauchtes Schreiben der US-amerikanischen Botschaft in Guatemala an das US-Außenministerium vom Oktober 1983 belegt nicht nur das Wissen der CIA über Barbies enormen Einfluss auf bolivianische Geheimdienstkreise, sondern ebenso deren Wissen über die Organisation der paramilitärischen Gruppe mit Hilfe namhafter internationaler Terroristen.

Damit hatte das Werk des "Don Klaus" seinen Höhepunkt erreicht. Als Kopf der Paramilitärs belieferte der dank seiner illegalen Geschäfte zu Reichtum aufgestiegene "Klaus Altmann" seine Armee mit europäischen Waffen und garantierte, auch durch Billigung der CIA, die Etablierung einer neuen, antikommunistischen Regierung in Bolivien unter Diktator Luis García Meza Tejada im Sommer 1980. Innenpolitisch diente dessen Militärjunta den aggressivsten und reaktionärsten Kreisen der bolivianischen Oberschicht. Der neue Präsident und dessen Innenminister Luis Arce Gómez unterstrichen damals ihre Verbundenheit mit Augusto Pinochet und identifizierten ihr politisches Vorhaben mit dem "chilenischen Modell".

Barbie wurde Anfang der 1980er Jahre in Südamerika festgenommen und später in Frankreich zu lebenslanger Haft verurteilt. Was hatten die westdeutschen Ermittlungsbehörden getan, um Nazi-Verbrecher der Justiz zuzuführen?

Peter Hammerschmidt: Schon im Zuge des "Ulmer Prozesses" von 1956 gegen ehemalige Aufseher des Konzentrationslagers Auschwitz bekam die Verfolgung von Kriegsverbrechern in der Bundesrepublik wieder neuen Schwung. Zwei Jahre später beschlossen die Justizminister der Bundesländer, eine zentrale Ermittlungsbehörde in Ludwigsburg zur Verfolgung von deutschen Kriegsverbrechern einzurichten. Auf den Fahndungslisten der "Zentralstelle" stand auch Klaus Barbie. Unmittelbar nach Gründung der Ludwigsburger Behörde sandten die Ermittler eine Anfrage an die US-Armee in Deutschland, in der die Deutschen nach dem aktuellen Aufenthaltsort Barbies fragten. Die Antwort lautete kurz und knapp, man habe zu dem Gesuchten seit 1951 jeglichen Kontakt verloren.

Im zweiten Teil des Telepolis-Interviews wird thematisiert, wie politische Interessen den Ermittlungen gegen Barbie in der Bundesrepublik Deutschland entgegenstanden, wie der BND Barbie anwarb und entlohnte und wie es um die Aufarbeitung dieser Geschichte in den USA und Deutschland bestellt ist.