Der projizierte Hunger

Die weltweite Nahrungsmittelproduktion wird in zehn Jahren mit dem Bedarf nicht mehr mithalten können - eine Folge von Klimaerwärmung und Bevölkerungszuwachs

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Sibirien als Kornkammer Asiens. Die Sahara, aus dem tropischen Süden her frisch ergrünt. Schnelleres Wachstum an Biomasse dank erhöhtem Kohlendioxid-Anteil an der Atmosphäre: Die langfristigen Folgen der Klimaerwärmung hören sich gar nicht mal so übel an. Wer mag nicht gern auf die lästigen Winter in Mitteleuropa verzichten, würde nicht lieber unter Palmen am Ostseestrand sitzen als unter Birken?

Wer sich, ganz Klima-Pragmatiker, die Prognosen auf diese Weise schön rechnet, vergisst allerdings, dass erst ein längerer Prozess dorthin führt. Wir wachen nicht auf, und es ist 2100. Bevor Sibirien zur Kornkammer werden kann, wird es dort erst einmal über längere Zeit sehr matschig, weil der Permafrostboden taut. Bevor wir am palmengeschmückten Ostseestrand sitzen können, ist manch kleineres Inselchen untergegangen - die dortigen Bewohner würden dann vielleicht gern den Strandkorb nebenan besetzen. Wie es in 90 Jahren aussieht, ist vielleicht interessant und für manchen beruhigend, doch erst einmal muss die Menschheit 2020 überleben.

Ausgangsbild: NASA

Die Kombination aus Bevölkerungszunahme und Klimawandel führt bis dahin zu einem ganz praktischen, bisher ungelösten Problem: Wie sollen wir die dann aus fast sieben Milliarden Individuen bestehende Menschheit ernähren? Eine jetzt veröffentlichte Studie des Universal Ecological Fund zeigt, dass eine beträchtliche Lücke in der Nahrungsmittelversorgung entstehen wird. Die Forscher der Non-Profit-Organisation haben dazu die weltweite Produktion der vier wichtigsten Grundnahrungsmittel bis 2020 untersucht: Weizen, Reis, Mais und Soja.

Afrika: Ernteeinbußen von bis zu 50 Prozent

Die vier Anbauprodukte unterliegen unterschiedlichen Trends: Zum einen beeinflusst natürlich das künftige Klima die Erträge und die bewirtschaftbaren Flächen. Auskunft über zu erwartende Temperaturen und Niederschläge geben die IPCC-Reports, die Forscher stützen sich dabei auf die Aussagen des Reports von 2007 mit der nicht ganz unwahrscheinlichen Annahme, dass es bis 2020 zu keiner wesentlichen Senkung des CO2-Gehalts in der Atmosphäre kommen wird. Das ergibt eine mittlere Erwärmung von 2,4 Grad. In manchen Ländern werden sich die Anbauerträge im Vergleich zu heute steigern lassen - schon aufgrund des technischen Fortschritts. In anderen werden die Ernten aus klimatischen Gründen sinken. Verändern wird sich aber auch der Bedarf, und hier ist die Richtung vom Bevölkerungszuwachs vorgegeben.

Die drastischsten Auswirkungen erwarten die Forscher für Afrika. Bis 2025 könnten dort zwei Drittel der landwirtschaftlichen Fläche verloren gehen. Verringerte Niederschläge könnten in manchen Ländern zu Ernteeinbußen von bis zu 50 Prozent führen. Für Asien sieht das Bild hingegen zweigeteilt aus: Mittel- und Südasien leiden demnach unter den Folgen der Klimaerwärmung, während Ost- und Südostasien davon profitieren. Die Aufteilung trifft die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Erde: Indien wird weniger Nahrung gewinnen können, China mehr. In Nordeuropa dürfte es zu etwa fünf Prozent höheren Erträgen kommen, im Mittelmeerraum hingegen zu Einbußen um ein Zehntel. Für Lateinamerika erwarten die Forscher moderate Einbußen von 2,5 bis fünf Prozent, Nordamerika, insbesondere der Westen der USA, wird sich mit zunehmender Dürre zu plagen haben.

Die Unterernährung könnte zunehmen. Was lässt sich dagegen tun?

Auf die vier Grundnahrungsmittel bezogen, ergibt sich folgendes Bild: Für Weizen dürfte 2020 der Bedarf 14 Prozent über dem Angebot liegen. China, die USA, Kanada und Argentinien werden die Erträge steigern können, in Ländern wie Indien, Russland, Australien und Spanien werden sie sinken. Bei Reis wird das Defizit mit elf Prozent etwas kleiner sein - fast alle ost- und südostasiatischen Länder werden bessere Ernten einfahren. Die bevölkerungsreichen Länder Indien, Brasilien, Pakistan und Bangladesh hingegen werden Einbußen hinnehmen müssen.

Bei Mais wird die Schere zwischen Bedarf und Produktion bei neun Prozent liegen. China, die USA und Indonesien profitieren, Indien, Brasilien, Russland und Argentinien werden weniger anbauen. Lediglich die Sojabohne ist weltweit ein Lichtblick: Hier wird das Angebot sogar etwas höher als der Bedarf liegen. Doch lokal betrachtet, gibt es auch hier Verlierer - insbesondere Indien, Nigeria, Russland und der Iran.

Was sind die Folgen? Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis - der könnte um etwa 20 Prozent steigen. Zugleich wird die Unterernährung zunehmen - jedes zweite Neugeborene in Afrika, jedes vierte in Asien und jedes Siebte in Lateinamerika könnte darunter leiden. Was lässt sich dagegen tun?

Vom wohl wenig realistischen Vermeiden des Klimawandels abgesehen, denken die Forscher zum einen an eine Anpassung der der Pflanzen und der Landwirtschaft an die veränderten Verhältnisse - allein dies könnte eine zehnprozentige Erhöhung der Erträge ergeben. Zum anderen müsste man wohl auch die Ernährung umstellen und zum Beispiel Kartoffeln oder Süßkartoffeln mehr Raum geben.