Die Politik der Diplomaten in den Hinterzimmern

Nach dem Scheitern der jüngsten Verhandlungsrunde forciert die palästinensische Regierung die Staatsgründung

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In den vergangenen Wochen hat eine Reihe von südamerikanischen Staaten, darunter auch Brasilien und Argentinien, Palästina als Staat in den Grenzen von 1967 anerkannt; unermüdlich werben die Mitarbeiter des palästinensischen Außenministeriums bei weiteren Regierungen um Unterstützung für die Staatsgründung. Im September will man dann die Vollversammlung der Vereinten Nationen um Zustimmung zur Unabhängigkeit bitten. Ob es zur Abstimmung kommen wird, ist fraglich. Ob es die Zustimmung geben wird, falls der Antrag tatsächlich eingereicht werden sollte, ist noch fraglicher. Doch darum geht es der Regierung von Premierminister Salam Fajad auch momentan gar nicht: Sie will damit die Hauptdarsteller des Nahost-Konflikts, also Israel, aber auch die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und Russland unter Druck setzen, nachdem im Herbst wieder einmal eine Verhandlungsrunde gescheitert ist.

Ganz viel Wasser, am anderen Ende der Welt, darin ein paar Inseln mit etwa 12.000 Menschen und einem Regierungssitz darauf, der Vaiku heißt, und um die 500 Einwohner hat: Das ist der Pazifikstaat Tuvalu, eines der kleinsten Länder der Welt, mit einer berühmten Domain-Endung: *.tv. Die wurde vor ein paar Jahren an ein ausländisches Unternehmen verkauft, das dafür an die 50 Millionen US-Dollar bezahlte und damit dem Land nicht nur internationale Bekanntheit verschaffte, sondern es auch zum Teil der internationalen Gemeinschaft machte.

Denn von einem Teil der Einnahmen aus dem Deal bezahlte Tuvalu die Aufnahmegebühr (siehe Dot Atlantis) für die Vereinten Nationen und betrat damit das internationale Parkett, wo es seitdem ziemlich im Abseits stand (wenn es nicht gerade um die Klimaerwärmung - siehe Naturkatastrophen und Umweltprobleme - ging, deren Auswirkungen das Insel-Königreich bedrohen). Bis vor ein paar Wochen. Das änderte sich, als im winzigen, gerade mal 15 Mitarbeiter zählenden Büro von Regierungschef Willy Telavi jemand von der Palästinensischen Autonomiebehörde anrief und fragte, ob sich die tuvaluische Regierung vorstellen könnte, Palästina als eigenständigen Staat anzuerkennen.

Seitdem wird in diesem kleinen Land, in dem man den Premierminister nach ein paar Minuten persönlich am Telefon hat, Weltpolitik gemacht. "Das ist etwas relativ Neues für uns," sagt Telavi:

Wir haben traditionell nur diplomatische Beziehungen zu unseren Nachbarstaaten und zu Großbritannien, dessen Königin unser Staatsoberhaupt ist; Mitglied von internationalen Organisationen sind wir vor allem, um auf die Probleme aufmerksam zu machen, die die Menschen hier im Pazifik haben: Klimaerwärmung und Armut. Deshalb ist es für uns zunächst einmal eine schwierige Entscheidung.

Eine Entscheidung, die zur Zeit nicht nur in Tuvalu, sondern auch in Staaten wie Tonga, Nauru oder Kiribati auf der Tagesordnung steht und für große Verunsicherung bei den Regierungen dieser Länder sorgt: Sie alle wurden in den vergangenen Wochen vom palästinensischen Außenministerium um die Anerkennung Palästinas als Staat gebeten, und sie alle sorgen sich nun, in den Mühlen des Nahost-Konflikts zerrieben zu werden.

Es wird auch gedroht und zwar nicht wenig

Denn es wird nicht nur freundlich gefragt oder auf die internationalen Auswirkungen einer solchen Entscheidung hingewiesen, sondern es wird auch gedroht und zwar nicht wenig: direkt und indirekt, von beiden Seiten und von deren Verbündeten, mit Sanktionen und mit Nein-Stimmen bei Abstimmungen in internationalen Gremien, deren Entscheidungen, vor allem zur Klimaerwärmung, diesen Staaten wichtig sind.

Das Prozedere ist dabei stets das Gleiche: Zuerst nehmen die Palästinenser Kontakt auf, gefolgt von unterstützenden Depeschen muslimischer Staaten. Dann folgen Mitarbeiter von israelischen Botschaften oder auch gleich das Außenministerium in Jerusalem und weisen darauf hin, dass eine Anerkennung Palästinas eine Abkehr von der bisher von der internationalen Gemeinschaft akzeptierten Doktrin bedeute, dass der palästinensische Staat nur auf der Grundlage von in Verhandlungen erzielten Kompromissen gegründet werden dürfe. Fruchtet weder das eine noch das andere, werden finanzielle Hilfen angeboten oder mit Sanktionen oder Zöllen gedroht.

“Es gibt nichts, worüber wir zur Zeit mit Netanjahu reden könnten“

Dass diese Länder ausgerechnet jetzt zu Nebendarstellern im Nahost-Konflikt werden, liegt am Scheitern der letzten Nahost-Verhandlungsrunde im Herbst: Eine gefühlte Ewigkeit lang hatten sich dabei beide Seiten über die Fortsetzung des Baustopps in den israelischen Siedlungen im Westjordanland gestritten, der in den zehn Monaten seines Bestehens so gut wie nirgendwo eingehalten oder ernsthaft durchgesetzt worden war (siehe "Illegal existiert nicht in unserem Wortschatz") - nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation BeTselem wurden in dieser Zeit in den Siedlungen an die 2000 Wohneinheiten, also zwischen 300 und 400 Wohnungen gebaut.

"Uns ist während dieser Gespräche sehr deutlich geworden, dass es nichts gibt, worüber wir zur Zeit mit Netanjahu reden könnten", erläutert ein hochrangiger Mitarbeiter des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas. Der Hauptvorwurf der palästinensischen Führung: Der israelische Premierminister und seine Regierung setzten sich nicht an den Verhandlungstisch, um Ergebnisse zu erzielen, sondern um dem Druck der internationalen Gemeinschaft auszuweichen und Ergebnisse dabei auf den Sanktnimmerleinstag zu verschieben. Mit dem Baustopp habe er eine virtuelle Verhandlungsmasse aufgebaut, die nur dazu gedient habe, den realen Themen auszuweichen, die auch heute noch die gleichen wie die vor zehn oder zwanzig Jahren sind: Flüchtlinge. Grenzen. Jerusalem. Siedlungen.

Israels Regierung reagiert darauf mit dem Vorwurf, die Palästinenser seien "starrköpfig". Es sei keine Kompromissbereitschaft, keine Bereitschaft "neue Wege zu gehen" zu erkennen - wobei der "neue Weg" für Netanjahu ein sogenannter "wirtschaftlicher Frieden" ist: Ein Friedensabkommen, in dem die Staatsgründung Palästinas erneut verschoben und stattdessen eine Vielzahl an wirtschaftlichen Zugeständnissen festgeschrieben wird.

Mehr als dies wäre mit Netanjahu nicht zu machen: Denn die Zusammensetzung seiner Regierung lässt auch keinerlei Spielraum für Kompromisse. Die rechts-populistische Jisrael Beitenu von Außenminister Avigdor Lieberman, aber auch die religiöse Schas-Bewegung von Innenminister Eli Jischai sind strikt gegen Zugeständnisse und eine Ersatz-Mehrheit ist nicht in Sicht.

Der Strategiewechsel soll dreierlei bewirken

Die Entscheidung, der palästinensischen Regierung, nun massiv die internationale Anerkennung Palästinas als Staat mit der Waffenstillstandslinie von 1949 (besser bekannt als "Grüne Linie" oder 67er-Grenze) zu forcieren, ist eine Reaktion auf diese Situation. "Wir glauben nicht mehr daran, dass unser Staat wirklich auf der Grundlage von Verhandlungsergebnissen erreicht werden kann", sagt der Mitarbeiter des palästinensischen Präsidenten:

Ja, es wurde oft verhandelt, und mit der Zeit haben wir von der israelischen Seite immer bessere Angebote bekommen - die dann aber nach der nächsten Wahl wieder in der Schublade verschwunden sind.

Der Strategiewechsel soll dreierlei bewirken: Er soll Druck auf Israel ausüben. Er soll die Ausgangsvoraussetzungen für zukünftige Verhandlungen verändern. Er soll der palästinensischen Öffentlichkeit signalisieren, dass die Regierung von Premierminister Dr. Salam Fajad, einem Wirtschaftswissenschaftler, der das internationale Geschäft bei Weltbank und Internationalem Währungsfonds gelernt hat, jetzt ernst macht, und nicht mehr allein auf Verhandlungen baut, denen die palästinensische Öffentlichkeit nach Jahrzehnten der erfolglosen Gespräche ohnehin so gut wie kein Vertrauen mehr entgegen bringt.

Nebenbei löst dieser Ansatz eines der Hauptprobleme, die die palästinensische Führung mit ihrer Öffentlichkeit hat - jenes, dass sie von vielen als Marionette Israels gesehen wird (siehe Die Fehler des Präsidenten).

Sehr viel wichtiger als die Stärkung des Selbstwertgefühls des palästinensischen Volkes, das mit zunehmender internationaler Anerkennung einher geht, sind allerdings die Auswirkungen auf künftige Verhandlungen: Denn jedes Land, dass Palästina anerkennt, erkennt damit auch die "Grüne Linie" als Grenze des Staates an und erklärt damit, dass man das Westjordanland und den Gazastreifen eben nicht mehr als "besetztes Gebiet", sondern als "besetzten Staat" sieht.

Eine komplette Neudefinition der Grundlage weiterer Verhandlungen

Auf den ersten Blick sind dies nicht mehr als zwei Begriffe mit ähnlichem Inhalt. Auf den zweiten Blick jedoch bedeutet der Wechsel vom Gebiet zum Staat eine komplette Neudefinition der Grundlage weiterer Verhandlungen, weil dieser Wechsel auch eine Veränderung der Sichtweise von Westjordanland und Gazastreifen beinhaltet.

Als Gebiete kann man die beiden Ländereien komplett als Verhandlungsmasse sehen, und sich dabei auf das Völkerrecht berufen: Jordanien und Ägypten, von denen Israel 1967 Westjordanland und Gazastreifen erobert hat, haben beide ihre Gebietsansprüche aufgegeben. Die Osloer Übereinkünfte machten zwar die Palästinensische Autonomiebehörde zum Rechtsnachfolger, aber nur in den Grenzen der Autonomiegebiete. Der Rest von Westjordanland und Gazastreifen wurde im wahrsten Sinne des Wortes zur "Verhandlungsmasse", was wiederum vor allem der israelischen Rechten (siehe Träume ohne Grenzen) in die Hände spielte, die vor allem das Westjordanland und Ost-Jerusalem als zu besiedelnde Landmasse sieht, wenn sie nicht sogar jener Untergruppe des Zionismus anhängt, deren Anhänger das Westjordanland als Teil Israels betrachten.

Diese Leute konnten im Laufe der vergangenen Jahrzehnte im Westjordanland mehr oder weniger frei schalten und walten und auch darauf hoffen, dass ihre Abgeordneten in der Knesset, die auf Grund des Koalitionssystems oft Zünglein an der Waage waren, die jeweilige Regierung, Verhandlungen hin oder her, davon abhielten, nachhaltig etwas gegen die Besiedlungstaktik der Rechten zu unternehmen.

Panik bei der Rechten

Bis es nun eigentlich zu spät geworden ist: Selbst wenn der politische Wille da wäre, wäre es ausgesprochen schwierig für Israels Staatsorgane, gegen die Siedler vorzugehen. Denn sie sind nicht nur bis an die Zähne bewaffnet, sie haben auch während der Räumung der Siedlungen im Gazastreifen im Sommer 2005 gelernt, wie man die Öffentlichkeit auf ihre Seite bringt (siehe Vor dem Aus), und haben diese Taktik seitdem perfektioniert: So setzen sich die Siedler bei jedem Versuch, auch nur einen winzigen Außenposten auf einem irrelevanten Hügel irgendwo im Westjordanland zu räumen, als unschuldige Opfer von Polizei-Brutalität in Szene und können dabei auf das Mitgefühl der Öffentlichkeit bauen, die den Behörden ohnehin schon zunehmend kritisch gegenüber steht, auch wenn die meisten Israelis das Siedlungskonzept ablehnen.

Dass nun im Ausland Palästina als Staat in den Grenzen von 1949 anerkannt wird, hat bei der Rechten für regelrechte Panik gesorgt: Denn es sind längst nicht mehr die "üblichen Verdächtigen", die aus der Palästinensischen Autonomiebehörde Palästina machen, sondern auch Schwergewichte wie Brasilien und Argentinien, zu denen sich schon bald weitere Schwergewichte gesellen könnten: Mexiko denkt über die diplomatische Aufwertung nach, und auch in Europa findet der Staat Palästina Freunde - Spanien ist ein Kandidat, aber auch Schweden und Norwegen sind nicht abgeneigt, während Großbritannien zumindest für eine teilweise Aufwertung der Beziehungen zu haben wäre.

Denn dies verändert nicht nur die internationale Perzeption Palästinas, sondern auch die Sichtweise jener Israelis, die dem politischen Zentrum zuzurechnen sind: Die vielen Medienberichte über ausländische Staaten, die Palästina anerkennen, haben auch bei ihnen die Wirkung nicht verfehlt - immerhin zwischen 52 und 57 Prozent stimmen, je nach Umfrage, der palästinensischen Eigenstaatlichkeit zu; um die 65 Prozent sind dafür, das Siedlungsprojekt ganz oder in großen Teilen zu beenden.

Messlatte noch einmal ein paar Stufen höher gelegt

Dabei dürften die Befragten auch oft die eigene israelische Geschichte im Hinterkopf haben: Einst, 1948, als Israel zum Staat wurde, war es genau diese Vorgehensweise, die dazu führte - zuerst holte man sich die Zustimmung von so vielen ausländischen Regierungen wie möglich; dann rief Staatsgründer David Ben Gurion den Staat Israel aus.

Jüngst kündigte Premier Fajad an, im September die Vollversammlung der Vereinten Nationen um Zustimmung zur Staatsgründung bitten zu wollen. Damit legte er die Messlatte noch einmal ein paar Stufen höher, auch wenn es so gut wie sicher ist, dass die Palästinenser diese Abstimmung verlieren werden, weil längst nicht die Mehrheit der Staatengemeinschaft dazu bereit ist, Palästina in den Grenzen von 1949 anzuerkennen.

Aber es geht Fajad auch gar nicht darum, die Abstimmung zu gewinnen: Seine Ankündigung ist vor allem eine Aufforderung an die Gegenseite, den Palästinensern ein richtig, richtig gutes Angebot zu machen. Denn: Kommt es zur Abstimmung, und endet sie mit einer Absage an den Staat Palästina, werden all' jene, die an dieser Absage mitgearbeitet haben, erklären müssen, wie sie sich denn das weitere Vorgehen auf der Grundlage der Verhandlungsdoktrin vorstellen – ohne das immer wieder neue Verhandlungsrunden im Sande verlaufen (siehe: Der Gipfel der grimmigen Männer).

Wie sich der Botschafter Tuvalus in einer solchen Abstimmung verhalten würde, ist indes unklar, wie der dortige Regierungschef Telavi betont:

Dass wir nun darum gebeten werden, Position in einem Konflikt zu beziehen, von dem die allermeisten Menschen in unserem Land so gut wie nichts wissen, hat uns vor die Frage gestellt, welche Auswirkungen es für uns haben würde. Wir diskutieren diese Frage zur Zeit sehr intensiv innerhalb von Parlament und Regierung, aber auch mit den Hauptakteuren des Nahostkonflikts: Wir möchten am Ende die Entscheidung treffen, die am Besten für die Menschen in unserem Land ist.

Eine Verhandlungstaktik, die für Tuvalu handfeste Ergebnisse verspricht: Das überwiegend von der Landwirtschaft lebende Tuvalu braucht dringend zusätzliches Land, weil das Meer zunehmend die eigenen Flächen verschlingt. Und im Ringen um die Stimme Tuvalus, die bei den Vereinten Nationen genau viel zählt, wie die Stimme Chinas, setzen sich beide Seiten seit Wochen dafür ein, dass endlich eine Land-Übereignung durch die benachbarten Fidschi-Inseln in Gang kommt, die wegen mehrerer Staatsstreiche in Fidschi seit Jahren vor sich hindümpelt.