Für die Allgemeinheit gefährlich?

Das Landgericht Essen sieht auch nach der Gesetzesänderung vom 1. Januar die Möglichkeit gegeben, Sicherungsverwahrung wegen eines Marihuanadelikts anzuordnen

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Zum 1. Januar wurde die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mehrfach gerügte Sicherheitsverwahrung neu geregelt. In der Pressemitteilung des Bundesjustizministeriums dazu hieß es, dass diese "schärfste Sanktion, die das deutsche Strafrecht kennt, nur noch dort verhängt [werde], wo sie zum Schutz der Bevölkerung auch wirklich nötig ist". Max Stadler, der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesjustizministerium, hatte der Süddeutschen Zeitung im November gesagt, dass es Sicherungsverwahrung nur noch in Fällen schwerer Sexual- und Gewaltdelikte sowie bei Staatsschutzdelikten geben solle.

Tatsächlich findet sich aber im § 66 Absatz 1 Nummer 1 des StGB nicht nur der Buchstabe a, der eine Anordnung der Sicherungsverwahrung erlaubt, wenn jemand zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, die "sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet", sondern auch der Buchstabe b, der dies für Straftaten ermöglicht, welche "unter den Ersten, Siebenten, Zwanzigsten oder Achtundzwanzigsten Abschnitt des Besonderen Teils oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das Betäubungsmittelgesetz [fallen] und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht [sind]. Darüber hinaus gibt es noch den Buchstaben c, der die Verhängung einer Sicherheitsverwahrung unter bestimmten Voraussetzungen bei Straftaten nach § 145a und § 323a erlaubt.

Dadurch wäre die Sicherungsverwahrung theoretisch auch bei Delikten wie Hausfriedensbruch, Landfriedensbruch, Gewaltdarstellung, Billigung von Straftaten, Amtsanmaßung, Nichtanzeige und Vollrausch möglich. Allerdings kann sie nur unter zusätzlichen Voraussetzungen verhängt werden - darunter auch die, dass eine "Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten" ergibt, "dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist."

Trotzdem ordnete die XVII. Strafkammer des Landgerichts Essen jetzt die Sicherungsverwahrung für einen Mann an, der weder Trieb- noch Intensivgewalttäter ist, sondern Marihuanahändler (Az. 52 KLs 43/10). Diese Anordnung ist auch insofern bemerkenswert, als die Strafe des Verurteilten schon sechseinhalb Jahre beträgt und er bereits 62 Jahre alt ist.

Dass der Verurteilte Ewald N. rückfällig werden könnte, ist möglicherweise tatsächlich nicht unwahrscheinlich: Laut Gericht versprach er bei seinen vergangenen Prozessen stets, keinen Handel mit Marihuana mehr zu betreiben und argumentierte unter anderem mit seinem Alter und einer Herzkrankheit. Trotzdem konnte ihm das Gericht für das jüngste Urteil nachweisen, zwischen Mai und Juli 2010 Marihuana "im Kilobereich" aus den Niederlanden importiert zu haben.

Spezielle Sorten medizinisches Marihuana, die in Kalifornien unter anderem zur Schmerzlinderung und gegen Appetit- oder Schlaflosigkeit verschrieben werden. Foto: Coaster420. Lizenz: Public Domain.

Fraglich ist jedoch, ob der Import einer weichen Droge, die nach Ansicht vieler Mediziner weit weniger gefährlich ist als Alkohol oder Tabak, eine "erhebliche Straftat" sein kann. Und ob es durch den Handel mit ihr tatsächlich Opfer gibt, die "seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden". Auf die zweite dieser Fragen ging das Gericht dem Strafverteidiger Karl Engels zufolge in seiner mündlichen Urteilsbegründung aber gar nicht ein, weshalb dem unter anderem auf Betäubungsmittelrecht spezialisierten Anwalt von Ewald N. nach anzunehmen ist, dass es den Halbsatz hinter "nämlich" als reine Beispielsnennung und nicht als Einschränkung wertete.

Hinsichtlich Ausführungen zur bei Sicherungsverwahrungen vorgeschriebenen Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 62 StGB wartet Engels auf die schriftliche Urteilsbegründung, die nach Ausführungen des Landgerichts, das ansonsten keine Stellungnahme abgeben wollte, in frühestens vier Wochen vorliegt. Da aber absehbar ist, dass es Klärungsbedarf gibt, wie die neu gefasste Vorschrift gelesen werden muss und wie weit sie ein Gericht dehnen kann, legte er gegen das Urteil bereits jetzt Revision ein.

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