Zur Vertwitterung von Aufklärung

Der Verteidigungsminister spricht von "Krieg"

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"Ich werde weiterhin und in aller Offenheit von Krieg sprechen", erklärte Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg vor einigen Tagen in Berlin. Im Blick auf den geplanten Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan wolle er sich an den Realitäten und Fortschritten der Sicherheitslage orientieren, sagte er damals noch, bevor der Beginn des Abzugs Ende 2011 vom Parlament beschlossen wurde.

Aufklärung ist ein genuin militärisches Geschäft. Die Offenheit des Ministers, von einem "Krieg" zu sprechen, verlangt allerdings nicht, über den eigenen Schatten zu springen, wenn mehr als 100.000 Soldaten der ISAF in einem fremden Land ihrem ureigensten Geschäft nachgehen. Die vormaligen Minister Frank-Walter Steinmeier und Franz Josef Jung sprachen noch von einem "Kampfeinsatz", der so gefährlich wie ein Krieg sei. Das war eine rhetorisch abgedroschene "Duplo-Variante", die das Entideologisierungsgeschäft nicht allzu aufwändig gestaltet: "Die einen nennen es Krieg, für uns ist es halt der größte Kampfeinsat…" Am Geschmack ändert das für die Betroffenen bzw. Getroffenen nichts, für die Daheimgebliebenen wenig.

Distanz zur Wirklichkeit

Guttenbergs Aufklärung über das eigene Handeln, bevor es andere tun bzw. längst getan haben, ist eine höchst bescheidene Aufklärungsvariante, weil sie über das aufklärt, was ohnehin jeder weiß. Politiker, die lügen, lösen in medial schlecht kontrollierbaren Verhältnissen fast reflexartig demokratische Vigilanz aus. Das ideologische Geschäft, das noch George W. Bush so angelegen schien, gehört einer verblassenden Epoche an. Radikaler formuliert: Die politische Fälschung der Wirklichkeit wird auch ohne "WikiLeaks" immer unwahrscheinlicher, weil die Wirklichkeitsbeschreibungen von Politikern sich über zu lange Zeit desavouiert haben.

Jedes Wort an den Wähler steht unter Generalverdacht, was den Aufklärungsautomatismus begünstigt, in jeder Beteuerung oder gar in einem "persönlichen Ehrenwort" (Barschel) das Gegenteil zu wittern. Wenn Guttenberg die ideologische Weichzeichner-Perspektive ablehnt, ändert das nichts an dem Umstand, dass Wörter zu bloßen Wörtern geworden sind und reale Bedeutungen sich nicht einmal mehr in ihrem Gebrauch erschließen. Mit dem Problem hat sich schon Fritz Mauthner herumgeschlagen: "Man hat mir nicht ohne zitternde Stimme entgegengehalten, daß die Lüge nicht mehr unsittlich sein werde, wenn man die Sprache als ein schlechtes Werkzeug der Erkenntnis erkannt habe; wenn jeder Satz falsch wäre, so käme es auf ein bißchen Fälschung mehr nicht an."

Wir leiden nicht an Ideologien, die längst erkannt sind, nicht an Lügen, wo wir alles für Lüge halten, nicht am schlechten Gebrauch der Sprache, der in einer „blogistischen“ Verlautbarungskultur von jedermann zum Standard wird. Auch Sprachpuristen, die jeden Anglizismus für einen kulturellen Sündenfall nehmen und jeden Rapper den Untergang des Abendlandes einleiten sehen, verkennen das Problem.

Um im Abendland zu bleiben: In Aristoteles' semiotischer Theorie verweist das Zeichen auf eine Vorstellung oder, engagierter formuliert, auf eine Seelenregung: „So wie nun die Schriftzeichen nicht bei allen Menschen die nämlichen sind, so sind auch die Worte nicht bei allen Menschen die nämlichen; aber die Vorstellungen in der Rede, deren unmittelbare Zeichen die Worte sind, sind bei allen Menschen dieselben und eben so sind die Gegenstände überall dieselben, von welchen diese Vorstellungen die Abbilder sind.“

Seit den Hopliten ist so viel Munition verschossen worden, dass Aristoteles' Universalanspruch intersubjektiv verbindlicher Vorstellungswelten für Spätgeborene nicht mehr plausibel ist. Hinter dem gegenwärtigen Emblem "Krieg" verbergen sich höchst unterschiedliche Wirklichkeiten, die längst nicht auf eine kategorische Seelenform des kollektiven Schreckens hinauslaufen. Die „Eskamotierung“ des Kriegs ist der in die Jahre gekommene Zaubertrick, der spätestens seit dem ersten Weltkrieg mit größtem manipulativem Enthusiasmus betrieben wird, weil die Legitimationsgrundlagen des „gerechten“ Kriegs seit Hugo Grotius mehr als gelitten haben. Krieg und Humanität laufen nun Arm in Arm, was Krieg dann bekanntlich zu einem chirurgischen Eingriff nicht nur ob seiner Präzision, sondern seiner Heilwirkungen macht. Der Begriff „Krieg“ ist semantisch fast so ramponiert wie der Begriff „Freund“, seit Facebook hier den größten Etikettenschwindel aller Zeiten vorinstalliert.

Von hundert gebildeten und feinfühlenden Menschen würden schon heute wahrscheinlich neunzig nie mehr Fleisch essen, wenn sie selber das Tier erschlagen oder erstechen müssten, das sie verzehren.

Bertha von Suttner

Das Angstpotential des Krieges verweist uns auf geliehene, empathieschwache Bilder - nicht viel für eine mörderische Wirklichkeit, deren Beurteilung so stark von fühlbaren Eindrücken abhängig ist. Die Reproduktion des Kriegs in den Medien ist regelmäßig eine der Selbstzensur, weil die Mittel fehlen (und auch nicht erwünscht sind), den Schrecken abzubilden. Bertha von Suttners Kritik an der Indolenz der Zeitgenossen hat die Bedingungen unseres Medienaprioris nicht wesentlich verändert, die Distanz zu katastrophalen Wirklichkeiten immer weiter auszubauen. Dabei trägt gerade die Dauerpräsenz von Schock und Splatter zur Anästhesierung des Zeitgenossen bei, auch Folterbilder wie die aus Abu-Ghuraib und anderswo als „casualties“ zu verarbeiten.