Mörder hautnah

Vom Umgang der virtuellen Öffentlichkeit mit Verbrechen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am Weihnachtsmorgen 2010 fand man in der Nähe von Bristol die Leiche der Landschaftsarchitektin Joanna Yeates, die vermutlich mit ihrer eigenen Socke stranguliert wurde. Seitdem beherrscht das Thema nicht nur die britische TV-Regionalberichterstattung, sondern es wurde bald im Internet zu einem kriminalistischen Fetisch der Extraklasse. Die BBC betreibt eine opulente Crimewatch-Page, die ein pralles Dossier über Tat und Opfer unterhält, das allerdings die - oft in anderen Fällen so schweigsamen - Ermittler noch durch ihre zahllosen Berichte über sämtliche Tataspekte überbieten. Sherlock Holmes würde wahrscheinlich bereits nach oberflächlichem Studium des erdrückenden Tatsachenmaterials den Mörder präsentieren, ohne noch die Säcke mit DNA-Material durchfilzen zu müssen, die tagelang – vor laufenden Kameras - aus der Wohnung des Opfers geschleppt wurden.

Im "real life" ließ die kriminalistische Erleuchtung auf sich warten, zunächst wurde "landlord" Chris Jefferies verdächtigt, seine Mieterin getötet zu haben, bis nach einem anonymen Anruf die Polizei den Tür-an-Tür-Nachbarn, den 32-jährigen Architekturplaner Vincent Tabak, festnimmt, dessen Name in den ersten Ermittlungen nicht einmal erwähnt wurde. Doch nun, wenige Tage nach der Ergreifung, kennen wir ihn besser als unseren eigenen Nachbarn.

Vincent wird Pixel für Pixel durchleuchtet, seine gesamte Biografie, seine Freundin, seine beruflichen Qualifikationen, sein Arbeitsplatz, seine Dissertation User Simulation of Space Utilisation, umrankt mit zahlreichen Fotos in und aus jeder Lebenslage: Beim Laufen, beim fröhlichen Shopping, vor Stonehenge oder entspannt am Strand.

Auch die Freunde des Verdächtigen liefern ihre Einschätzungen ("smart", "unglaublich intelligent", "etwas eigenbrötlerisch"), um uns allen die allfällige Prüfung von Vincents Tätereignung zu erleichtern. Die Familie der Ermordeten geizt indes auch nicht mit Informationen, die sich inzwischen den Ritualen des ägyptischen Totenkults annähern. Vor der Beerdigung werden noch einmal eigens neue Fotos der Toten, deren Familienalben schon vorher ausgiebig polizeilich durchforstet worden waren, mit der rituellen Formel ausgegraben, so und nur so sollte sie in öffentlicher Erinnerung bleiben. Dabei kannten wir sie zuvor gar nicht.

Unabhängig von der Frage, ob Vincent Tabak der Mörder ist, ist er bereits wenige Tage nach seiner Festnahme eine gläserne Erscheinung, die sich nie mehr im Leben – vorbehaltlich einer Gesichtsoperation – eine Pizza bestellen wird, ohne Blicke auf sich zu ziehen. Schuldig oder nicht, ist längst nicht mehr die einzige Frage, wenn diese rückhaltlose Publizität zum lebenslänglichen Stigma wird.

Doch zugleich ist die gnadenlose Demontage des Privaten ein Schutz des Verdächtigen, was klassischen Datenschützern nicht jederzeit einleuchten mag. Nach der Festnahme des pädophilen Serienmörders Jürgen Bartsch in den sechziger Jahren wurde er in der Presse zunächst als Monster einer unmenschlichen Spezies installiert. Ohne Schwierigkeiten hätte ein Plebiszit die Todesstrafe für diese "Bestie" legitimiert. Während der jahrelangen Verfahrensdauer veränderte sich die informationsarme "Pulp-Fiction"-Perspektive hin zu einer differenzierteren Analyse der Genese der Morde und ihres Urhebers.

Die Sensibilisierung für grauenhafte Sozialisationen, wie sie Bartsch durchlitten hatte, wurde in den siebziger Jahren geradewegs als das Thema einer aufgeklärteren Strafjustiz entdeckt (Vgl. Rolf Schübel, "Nachruf auf eine Bestie", 1984). Die Erkenntnis ist inzwischen eher ein Gemeinplatz, aber war für die gesellschaftliche Strafwut ein notwendiges Stopp-Signal: In fast jedem Täter steckt auch ein Opfer. Diese Sichtweise gelangt durch die radikal veränderte mediale Aufbereitung von Einbrüchen der Alltäglichkeit aber erst zu explosiver Sprengkraft: Der primitive Druck einer erregten Öffentlichkeit auf die Wahrnehmung von Richtern oder Geschworenen, wie sie noch der O.J.Simpson-Prozess zeigte, wird in differenzierteren Wahrnehmungsperspektiven, die sich nun in virtuell aufbereiteten und minutiös entfalteten Erzählungen eröffnen, unwahrscheinlicher.

Vincent Tabak wird in der virtuellen Totalsondierung erst gar nicht zur Bestie mutieren. Die öffentliche Meinung in ihrer abstoßendsten Form, als Lust auf Täterhatz und Abreaktion eigener Gewaltfantasien, verliert im infiniten Für und Wider der Meinungen ihre vormalige Macht. Wenn die mediale Überformung von öffentlichen Stimmungen ausbleibt, wird nicht nur der primitive Volkszorn entsorgt, der populistische Politik der vorangegangenen Jahrtausende so einfach bis billig machte.

Bald schon könnten wir uns fragen, was denn öffentliche Meinung überhaupt sei, wenn keine homogene Öffentlichkeit mehr angegeben werden kann, das zu beantworten. Wenn die öffentliche Meinung nicht länger instrumentalisiert werden kann, um Mehrheiten zu konstruieren, steigt in Demokratien der Diskursdruck. Davon sollten Tatverdächtige gleichermaßen wie Bürger und nicht zuletzt lernfähige Politiker profitieren, so wenig anzugeben ist, ob wir hier an die Grenzen des uns bekannten Demokratiemodells geraten.