Joseph Ratzingers Festung bröckelt

Die fromme Revolte in der römisch-katholischen Kirche bekommt Konturen - 143 Theologen legen ein Memorandum zu Umkehr und Aufbruch vor

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In ihrer aktuellen Ausgabe berichtet die Süddeutsche Zeitung über ein Memorandum zur Kirchenreform, das bislang 143 namhafte Theologinnen und Theologen unterschrieben haben. Wer den Inhalt liest und mit den repressiven Binnenstrukturen der Ratzinger-Ära vertraut ist, kann über die Zahl der amtierenden Lehrstuhlinhaber auf der Unterzeichnendenliste nur staunen (man wundert sich allerdings auch über so manchen Namen, der fehlt). Der Aufruf ist mit Blick auf die aktuelle kirchliche Situation noch viel brisanter als die Kölner Erklärung "Wider die Entmündigung – für eine offene Katholizität" von 1989, in deren Folge sich die meisten röm.-kath. Theologen – bis heute – auf unverfängliche akademische Forschungen zurückgezogen haben.

Die Kirche ist kein Opfer und braucht den kritischen Blick der Gesellschaft

Die Theologen, die sich nun trotz allen Drucks doch wieder als Mutmacher verstehen, fordern im Memorandum angesichts des unaufhaltsamen Kirchen-Exodus einen Aufbruch noch in diesem Jahr und erteilen der von Traditionalisten betriebenen Selbststilisierung – "Kirche als Opfer böser Zeitverhältnisse" – eine unmissverständliche Absage:

Die Erneuerung kirchlicher Strukturen wird nicht in ängstlicher Abschottung von der Gesellschaft gelingen, sondern nur mit dem Mut zur Selbstkritik und zur Annahme kritischer Impulse – auch von außen. Das gehört zu den Lektionen des letzten Jahres: Die Missbrauchskrise wäre nicht so entschieden bearbeitet worden ohne die kritische Begleitung durch die Öffentlichkeit. Nur durch offene Kommunikation kann die Kirche Vertrauen zurückgewinnen.

"Was alle angeht, soll von allen entschieden werden"

Für eine Kirche als "glaubwürdige Zeugin der Freiheitsbotschaft des Evangeliums" werden klare Maßstäbe formuliert: "Unbedingter Respekt vor jeder menschlichen Person, Achtung vor der Freiheit des Gewissens, Einsatz für Recht und Gerechtigkeit, Solidarität mit den Armen und Bedrängten."

Wider die zentralistische und unkontrollierte Machtausübung in der Ära der letzten drei Jahrzehnte erinnert das Memorandum an das altkirchliche Leitprinzip "Was alle angeht, soll von allen entschieden werden". Namentlich die (völlig unbiblische) Einsetzung von Bischöfen und anderen Amtsträgern ohne Beteiligung der Gläubigen soll ein Ende finden. "Rechtsschutz und Rechtskultur in der Kirche" müssten "dringend verbessert werden".

Zölibat, Frauen als Amtsträger und gleichgeschlechtliche Liebe

Rom behandelt wider alle historische und theologische Vernunft den Zölibat wie ein Dogma oder gar als "achtes Sakrament". Über die Frage des Frauenpriestertums ist – unter Strafandrohung – ein striktes Diskussionsverbot erlassen worden. Gegen beide Punkte machen die Theologen geltend: "Die Kirche braucht auch verheiratete Priester und Frauen im kirchlichen Amt." Eine Hochschätzung von Ehe und ehelosen Lebensformen gebiete keineswegs, die Liebe in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und die Liebe von wiederverheirateten Geschiedenen auszuschließen.

Besonders der Respekt vor homosexuell Liebenden ist im Kontext eines so prominenten kath. Theologen-Memorandums ein echtes Novum. In den meisten röm.-kath. Gemeinden sind Schwule und Lesben längst willkommen wie jeder andere Mensch. Doch der rechtskatholische Klerikerflügel der Hierarchie hält geradezu fanatisch an der Homophobie fest, obwohl gerade dort männerbündlerische Netzwerke und selbstverliebte homophile Stile bis in die oberen Etagen hinein verankert sind. Unerlöste homosexuelle Priester, die sich aus Angst besonders konservativ und gehorsam zeigen, gehören zu den Stützen des traditionalistischen Machtsystems.

Vieles spricht dafür, dass die römisch-katholische Reformblockade (z.B. Ausschluss der Frauen, Zölibat, Priesterbild) ganz zentral auch im Selbsthass homosexueller Verantwortungsträger wurzelt. Die Theologen haben offenbar verstanden, dass dies alles nur durch eine Botschaft der Angstfreiheit und Selbstannahme aufgebrochen werden kann.