Der erste große Klima-Aufstand

Steigende Lebensmittelpreise waren ein maßgeblicher Grund für den Ausbruch der Volksaufstände in Ägypten und Tunesien. Doch welche Faktoren tragen zur Explosion der Nahrungspreise hauptsächlich bei?

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Es sind gerade mal knappe drei Jahre vergangen, als kurz vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise in 2008 eine Reihe von Hungerunruhen etliche Länder der Dritten Welt erfasste. Die bis Mitte 2008 rasant ansteigenden Preise für Grundnahrungsmittel trieben die Armen in so unterschiedlichen Ländern wie Mexiko, Bangladesch, der Elfenbeinküste, Marokko, Mosambik, Niger oder Senegal auf die Straßen

Die mit Abstand schwersten Ausschreitungen, in deren Verlauf mehrere Menschen zu Tode kamen, ereigneten sich im April 2008 in Haiti. Diese heftigen Unruhen führten Mitte April sogar zur Entlassung der damaligen haitianischen Regierung (Hunger, soziale Aufstände und Business). Insgesamt waren nach Angaben der Vereinten Nationen 34 Länder von dieser ersten Welle der Hungerunruhen betroffen - damals war es auch in Ägypten zu Protesten gekommen, in dessen Verlauf die Polizeikräfte rund 200 Aktivisten verhafteten, die einen landesweiten Generalstreik zu organisieren versuchten (Nur die Alphaversion eines Generalstreiks?).

Der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, die nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 in die manifeste Phase überging, führte zwischenzeitlich zum deutlichen Fall der Lebensmittelpreise. Der plötzliche, heftige globale Konjunktureinbruch ab 2009 ließ schlicht die Nachfrage nach vielen Rohstoffen und Grundnahrungsmitteln einbrechen.

Grafik: FAO

Besonders deutlich wird dieser kurze Preiseinbruch von dem Lebensmittelpreisindex der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) erfasst. Der aus einer Zusammenstellung von Grundnahrungsmitteln errechnete FAO-Preisindex erfasst unter anderem die Preise für Getreide, Milchprodukte, Speiseöl oder Zucker. Von seinem damaligen historischen Höchststand von 224,1 Punkten im Juni 2008 stürzte dieser Index rasch auf nur noch circa 140 Zähler zur Jahreswende 2008/09, um in den folgenden eineinhalb Jahren bis Mitte 2010 nur einen relativ moderaten Anstieg auf circa 160 Punkte zu verzeichnen.

Die neue Nahrungsmittelkrise

Doch seit dem Sommer 2010 explodiert der FAO-Preisindex regelrecht. In sieben Monaten in Folge legte dieser wichtige Gradmesser der Nahrungsmittelsicherheit in der Dritten Welt unaufhörlich zu, bis der im Januar einen neuen historischen Höchststand von 230,7 Punkten erreichte. Auch die Dynamik des Preisauftriebs ist historisch einmalig, da der FAO-Index zwischen Dezember 2010 und Januar 2011 den stärksten je gemessenen monatlichen Anstieg um 3,4 Prozent verzeichnete. Besonders stark viel der Preisauftrieb mit 6,2 Prozent bei Milchprodukten aus. Auch Speiseöle haben sich binnen eines Monats um 5,6 Prozent verteuert, während die Preise für Getreide durchschnittlich um drei Prozent zulegten. Allein die Fleischpreise blieben aufgrund des deutschen Dioxin-Skandals stabil.

Grafik: FAO

Ein Ende dieser jüngsten Teuerungswelle sei nicht in Sicht, erklärte der FAO-Experte für den Getreidemarkt, Abdolreza Abbassian: "Die neuen Daten zeigen, dass der Aufwärtstrend bei Lebensmittelpreisen nicht nachlässt." Ähnlich argumentierte Weltbank-Präsident Robert Zoellick: "Wir müssen uns auf weiter steigende Rohstoffpreise einstellen, das gilt auch für Agrarrohstoffe."

Von diesen Preissteigerungen ist auch die ökonomisch marginalisierte Bevölkerungsmehrheit in Ägypten betroffen. Das Land muss mehr als die Hälfte seines Weizenbedarfs durch Importe decken. Während vor den Bäckereien mit subventioniertem Brot die Warteschlangen immer länger werden, verteuerte sich das frei auf den Märkten gehandelte Brot um circa 25 Prozent. Die Preise für Fleisch und Geflügel stiegen im Laufe des Jahres um 40, beziehungsweise 25 Prozent, während Tomaten im Sommer eine Preisexplosion von 600 Prozent erlebten. Die ägyptische Erntesaison im Oktober und November ließ das Preisniveau bei Lebensmitteln wieder etwas absinken, doch verblieben die Nahrungsmittelkosten selbst im November durchschnittlich noch gut 20 Prozent über dem normalen Niveau.

Welche Auswirkungen diese jüngste Teuerungswelle auf die politische Stimmung in Ägypten hatte, schilderte der Ökonom Hamdi Abdelazim gegenüber der Nachrichtenagentur IPS kurz vor Ausbruch des derzeitigen Aufstands: "Wenn der Anstieg der Nahrungspreise anhält, wird es eine Explosion der Wut gegen die Regierung geben." Abdelazim führte im Folgenden aus, wie die Proteste gegen die Teuerung zum Aufheizen des politischen Klimas im Vorfeld des Aufstandes beitrugen: "Demonstrationen in allen Provinzen haben eine zunehmende Anzahl von Protestierern angezogen - selbst wenn die Sicherheitskräfte nicht davor zurückschrecken, diese Demonstrationen mit Gewalt zu beenden." Es sei das erste mal seit 1977, dass in Ägypten so viele Demonstrationen gegen steigende Nahrungspreise stattfänden, so Abdelazim.

Die Teuerungswelle bei Nahrungsmitteln belastet vor allem die Ärmsten an stärksten, da mit sinkendem Einkommen der Anteil der Aufwendungen für die überlebensnotwendigen Nahrungsmittel immer mehr ansteigt. Während in Deutschland, je nach Berechnungsgrundlage, zwischen zehn und 12 Prozent des Einkommens für Lebensmittel aufgewendet werden, sind es in Ägypten im Schnitt 44 Prozent. Die gut 20 Prozent der ägyptischen Bevölkerung, die als sehr arm gelten, müssen gar 70 bis 80 Prozent ihrer Einkommen für Nahrung ausgeben, um nicht hungern zu müssen.