Die ägyptische Armee als "zweiter Pharao"

Mubarak wurde von der Armee zur Seite gedrängt, aber die gleicht einem "Staat im Staat" mit eigenen wirtschaftlichen Interessen

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Die ägyptische Armee, die seit Freitag offiziell für die Amtsgeschäfte des Landes verantwortlich zeichnet, hat Hosni Mubarak einfach zur Seite geschoben. Indem sie einen der ihren von der Bühne entfernte, sorgte sie für Feierstimmung bei Millionen von Demonstranten, die die Regierungsgebäude umzingelt hatten.

Dem Schock vom Donnerstag, als Mubarak in seiner Ansprache ans Volk symbolische Veränderungen und die Übergabe von ein paar Funktionen an den ebenfalls verhassten Omar Suleiman versprach, folgte am Freitag die Erleichterung. Suleiman machte deutlich, dass Mubarak endlich zurücktreten und die Armee die Führung übernehmen würde.

Was in den dramatischen Stunden geschehen war, beschrieb der Generalmajor Safwat Al-Sayat, offenbar ein Regime-Insider, laut der Zeitung Al-Ahram mit "einer tiefen Kluft zwischen den Streitkräften und dem Präsidentenpalast". Weder Mubaraks provokative Rede noch Suleimans ebenso wirklichkeitsfremder Aufruf an die Demonstranten, nach Hause zu gehen, seien mit der Armeeführung abgesprochen gewesen.

Die Entscheidung der Armee, Mubarak seinen eigenen Abschied und dessen Bekanntgabe nahezulegen, war dieser Lesart nach und ziemlich wahrscheinlich also längst ausgemacht. War es seine Fehleinschätzung der Kräfteverhältnisse innerhalb der Armee, vielleicht das Hoffen auf Einschreiten seiner Präsidialgarde zu seinen Gunsten oder schlichtweg Altersstarrsinn, was Mubarak vom schnellen Abtritt abhielt? Und weshalb sekundierte ihm Omar Suleiman, der sonst gewiefte Ex-Geheimdienstchef und mit allen Wassern gewaschene CIA-Günstling?

Eine mögliche Antwort ist, dass beide von der Armee hinters Licht geführt wurden, um eine schnelle und sanfte Machtübergabe zu ermöglichen. Mubarak selbst machte in einem Telefonat mit seinem israelischen Freund und Gesprächspartner, dem sozialdemokratischen Politiker und Ex-Minister Benjamin Ben-Elieser dafür Druck aus den USA verantwortlich. Darüber berichtete Haaretz.

Mubarak wurde per Hubschrauber in den 400 Kilometer von Kairo entfernten Touristenort Scharm El-Scheich ausgeflogen ausgeflogen, wo er in den letzten Jahren so oder so die meiste Zeit auf seinem Urlaubssitz verbringt. Dort befindet er sich außer Reichweite lästiger Demonstranten und fünf Minuten entfernt von einem internationalen Flughafen. Außerdem ist es übers Rote Meer nur ein Katzensprung nach Saudi-Arabien oder in eines der Scheichtümer am Golf. Auch ein Abtauchen ins Exil nach Israel oder Jordanien über die nahe gelegenen Städte Eilat und Akaba ist denkbar – just in case.

"Entsorgt" und damit machtlos, wie Wohlmeinende glauben, ist Mubarak damit aber nicht. Denn falls es stimmt, dass er und seine Familie über ein geschätztes Vermögen irgendwo zwischen 40 und 70 Milliarden Dollar verfügen, dann gehören die Mubaraks in die Liga von Bill Gates. Und das Vermögen stammt aus Liegenschaften und Investitionen in Ägypten, "geraubt", wie linke Blogger sagen. Und allen schönen Reden von der "Revolution" zum Trotz sind die Eigentumsverhältnisse bisher nicht angetastet worden. Mubarak versorgte in den 32 Jahren seiner Herrschaft die führende Militärkaste mit Zuwendungen, Begünstigungen, Verträgen, Kontakten und Profiten. Die beidseitigen Abhängigkeiten bestehen mit Sicherheit fort, Mubarak mischt von seinem Villenkomplex am Roten Meer aus weiter mit.

In einem viel diskutierten Artikel von Pail Amar, Professor für internationale Beziehungen an der University of California, ist die Rede vom ägyptischen Militär als nationalem Wirtschaftsfaktor, das sich als stolzer "Nationalkapitalist" verstehe. Die Streitkräfte seien ein "Staat im Staate", Ägypten immer noch eine Militärdiktatur und ein Regime, das Anfang der 50er Jahre durch Nasser geschaffen wurde. Von den USA seit dem Camp-David-Abkommen Ende der 70er Jahre zum Frieden gedrängt, werde es mit US-Dollars gemästet.

In den letzten Jahren, so Amar, habe das Militär "kollektiv ein wachsendes nationales Pflichtgefühl" und das Bedürfnis entwickelt, die "Ehre wiederherzustellen" – auf Seiten der Bevölkerung, angewidert von der Korruption der Sicherheitspolizei und dem globalisierten Geschäftemacherei etwa des Mubarak-Sohns Gamal. Innerhalb der Armee hätten sich die Luftwaffe und die Präsidialgarde hinter Mubarak gestellt, aber der große Rest hinter die Bevölkerung.

Verändert sich mit Mubaraks Rücktritt das Regime wirklich?

Stimmt Amars Analyse, so hat sich die Armeemehrheit gegen die Mubarak-treue Elite durchgesetzt. Aber was jetzt? Keine zwei Stunden nach der Flucht Mubaraks und der Amtsübernahme des Militärs – noch während die Massen feierten – warnte der New York Times-Kolumnist Nicholas Kristof, der sich vor Ort in Kairo befindet, vor der Armee als einem "zweiten Pharao", vor einer Fortsetzung des Mubarak-Regimes ohne Mubarak .

Führende Generäle haben sich selbst bereichert und ein Interesse an einer politischen und wirtschaftlichen Struktur, die zutiefst ungerecht und repressive ist. Man muss daran denken, dass dann, wenn die Militärs den Staat direkt regieren, sich dies nicht von dem unterscheidet, wie es zuvor war: Mubaraks Regime war schon zuvor weitgehend ein Militärregime (in Zivilkleidung). Mubarak, Vizepräsident Suleiman und so viele andere sind Karrieremilitärs. Wenn das Militär nun die Macht übernimmt, welchen Unterschied macht das?

Nicholas Kristof

Merkwürdigerweise ignorierten Kristof und mit ihm viele andere Kommentatoren in ersten Reaktionen die Machtübernahme des Militärs einen erschütternden Hintergrundbericht des britischen Guardian zwei Tage zuvor. Darin ist die Rede von massiven Menschenrechtsverletzungen, die bis hin zu systematischen Folterungen gingen, begangen von Armeeangehörigen an friedlichen Demonstranten.

Auch auf der Webseite des in New York ansässigen Thinktanks Council of Foreign Relations, der den Demokraten nahesteht, überwogen zunächst skeptische Stimmen, die sich mischten mit solchen, in denen ein "schneller Übergang ohne Verzögerungen" angemahnt wurde. Der Politikprofessor Ellis Goldberg, der in Washington sowie an der American University in Kairo lehrt, hält die Demokratisierung unter der Ägide des Militärs sogar für unwahrscheinlich.

Nachdem nun Mubarak zurück getreten ist, kann die Armee als Übergangsmacht auftreten, indem sie anerkennt, dass es schnell die Macht an das Volk übergeben muss. Wahrscheinlicher ist jedoch die Rückkehr zu einer strengen militärischen Herrschaft der vergangenen Jahrzehnte.

Ellis Goldberg

Er begründet dies mit der simplen Interessenslage des ägyptischen Militärs. Den Forderungen der Demokratiebewegung nach dem Ende des Ausnahmezustands, freien unabhängigen Wahlen oder Organisationsfreiheit von politischen Parteien würde "die Machtstruktur auflösen, die die Armee 1952 geschaffen und seitdem gestützt hat".

Doch diese Forderungen würden dazu führen, den politischen Raum für jeden in der sozialen und politischen Struktur zu öffnen. Das würde Veränderungen der Verfassung und der Regierungsstruktur beinhalten, beispielsweise das Präsidialsystem zu einem parlamentarischen System zu reformieren, in dem eine frei gewählte Mehrheit den Regierungschef bestimmt, der jetzt vom Präsidenten ernannt wird.

Ellis Goldberg

Der ägyptisch-amerikanische Militär-Industrie-Komplex

Da bleibt die Frage, ob die USA den finanziellen Hebel am ägyptischen Militär anzulegen bereit sind. Immerhin finanzieren sie mit 1,3 Milliarden Dollar jährlich ein Drittel des Kairoer Militärhaushalts. Wäre die Drohung, die Mittel zu kürzen oder mit härteren Konditionen zu belegen, nicht ein "Ansporn" zur Demokratisierung?

In einem Forschungsbericht des US-Kongress zu den ägyptisch-amerikanischen Beziehungen heißt es, eine Beschneidung der Militärhilfe für Ägypten laufe US-Interessen grundsätzlich zuwider - was Kairo wiederum klar sei. Die 32 Jahre währenden Beziehungen haben eine wohl geölte Maschinerie hervorgebracht. Die jährlichen Überweisungen an Kairo sind an Bedingungen geknüpft, von denen US-Rüstungskonzerne profitieren. Mit einem Großteil der vom Kongress bewilligten Gelder darf Ägypten nur amerikanische Militärgüter erwerben, etwa Abrams-Panzer von General Electric, Chinook-Transporthubschrauber von Boeing, F-16-Kampfflugzeuge von Lockheed Martin, Black-Hawk-Hubschrauber von Sikorsky Aircraft usw. Aber es geht nicht nur um Waffensysteme. Mehr als 500 ägyptische Offiziere kommen jährlich zu Trainingskursen an US-Militärschulen.

Umgekehrt hielten sich vor den Demonstrationen über 600 Pentagonangestellte dauerhaft in Ägypten auf, vor allen, um den Fluss von Geldern und Waffen zwischen beiden Ländern zu überwachen. Ein Teil ist darüberhinaus auf dem Sinai an der Grenze zu Israel als "Berater" tätig.

Die USA sind das einzige Land, dem die ägyptischen Behörden im Suez-Kanal freien Zugang für das Militär gewähren. Ohne den Kanal müsste die US Navy "ihre Seepräsenz rund um Afrika verdoppeln", wird der ehemalige Washingtoner Lobbyist Graham Bannerman zitiert. Im Kongressbericht liest sich das so: "Die US Navy, die monatlich im Durchschnitt ein Dutzend Mal den Kanal passiert, erhält für ihre atomar bestückten Kriegsschiffe Vorzugsrechte, ein nicht zu unterschätzender Wert. Denn Genehmigungen für andere fremde Seemächte brauchen oft Wochen. Ägypten räumt der US-Luftwaffe außerdem Überflugstrechte ein". Umgekehrt kann sich Ägypten, mit US-Waffensystemen und modernem militärischen Know-how ausgestattet, seit Jahrzehnten als regionale Großmacht vor der arabischen Konkurrenz profilieren.

Die US-Militärhilfe sorgt nicht nur für ein waffenstarrendes Regime (auf "Abrams"-Panzer sprühten Demonstranten ironischerweise "Nieder mit dem Regime"). Die Gelder proppen das ägyptische Militär auch auf als Grundstückseigentümer und Arbeitgeber. Mit US-Dollars haben die ägyptischen Militärs ihre wirtschaftliche Reichweite ausgedehnt: von der Fahrzeugproduktion und das Bauwesen über Waschmaschinen bis hin zum Tourismus. Mit Spannung darf erwartet werden, ob der ägyptisch-amerikanische "Militär-Industrie-Komplex" in den kommenden Monaten in Ägypten zum Thema gemacht wird.