Macht Wirtschaftswachstum glücklich?

Wirtschaftsgläubigkeit und das Bild vom Menschen

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Am 17. Januar hat der Bundestag eine Enquete-Kommission mit dem Titel "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität” eingerichtet (Bundestag will Grenzen des Wachstums ausloten). Sie untersucht eine neue Messgröße für wirtschaftliches Wohlergehen. Offensichtlich macht ein steigendes Bruttoinlandsprodukt nicht glücklich und löst auch die Klimaproblematik nicht. Wie passen Wirtschaft und Glück zusammen?

Unbestritten ist, dass jeder Mensch nach Glück und Erfolg strebt. Beide Größen hängen gerade in den Industriestaaten eng miteinander zusammen. Kürzlich hat der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sein Jahresgutachten 2010/11 vorgelegt. Darin wird Deutschland die Rolle der "Konjunkturlokomotive” zuerkannt. Mit einer Entwicklungsprognose des BIP von 3,7 v. H. hat sich Deutschland überdurchschnittlich schnell aus der Finanzkrise erholt.

Deutschland ist im wirtschaftlichen Aufschwung. Sind die Deutschen nun glücklich?

Glück ist individuell, Zufriedenheit gesellschaftlich messbar

Dies bezweifelt Martin Binder, Wirtschaftsexperte am Max-Planck-Institut für Ökonomik. In seiner Doktorarbeit Innovationen, Wirtschaftskrisen und gesellschaftlicher Fortschritt - Eine wohlfahrtstheoretische Untersuchung, die 2010 mit dem Deutschen Studienpreis der Körber Stiftung ausgezeichnet wurde, hat Binder den Zusammenhang von Wachstum und Glück untersucht.

Seine Kritik: Hinter der Wachstumsgläubigkeit verberge sich ein verkümmertes Bild vom Menschen. Der Mensch werde auf sein Einkommen reduziert. Regierungen streben Wirtschaftswachstum und die Zunahme des Bruttoinlandsproduktes an. "Doch die eigentlichen Bedürfnisse des Menschen werden dabei vernachlässigt: Soziale Kontakte, Liebe, Freundschaft, das vielfältige Tätigsein.

Während Glück nur individuell erfahrbar ist, ist Zufriedenheit eine gesellschaftlich messbare Größe. Das persönliche Glück ist abhängig von der eigenen Stimmung und Gefühlen. Dabei ist Glück kein Dauerzustand. Es ist an die eigenen Fähigkeiten gekoppelt. Doch gibt es Glück fördernde Attribute wie Familie, Freunde, Gesundheit und Beruf. Wenig Geld sowie Arbeitslosigkeit machen unglücklich, weil die Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden können.

Liu Zhengrong gilt als herausragendes Talent und hat es als einziger Chinese ins Topmanagement eines deutschen Konzerns geschafft. Der heute über 40-jährige Manager aus Shanghai kam mit wenig Geld nach Deutschland. Mit eiserner Disziplin und der Fähigkeit, Konflikte zu lösen, hat er sich ganz nach oben gearbeitet und steht heute 14.000 Mitarbeitern vor. Liu ist Personalvorstand des Leverkusener Spezialchemiekonzerns Lanxess AG.

Seine Philosophie: Ein positives Menschenbild mache Mitarbeiter im Unternehmen zufrieden und motiviere sie zu Höchstleistungen. Da Liu hat bis zum 22. Lebensjahr in China gelebt hat, vertritt er keine westliche Vorstellung vom Glück. Schon als Kind hatte er gelernt, dass zu viele Glücksgefühle in Unglück umschlagen können, also Glück die Summe seltener Momente ist. Deshalb trennt er zwischen Glück und Zufriedenheit im Leben. Für Liu bedeutet Zufriedenheit zu wissen, was wann genug ist, das richtige Maß der Dinge zu erkennen.

Positive Kausalkette in Unternehmen mit zufriedener Belegschaft

Seine Vorstellung von Zufriedenheit ist auch für die Mitarbeiter bei Lanxess Maßstab. "Eine zufriedene Belegschaft ist im Interesse der Kunden und Aktionäre”, sagt Personalchef Zhengrong Liu. Es ist eine Philosophie des verantwortlichen Miteinanders und gegenseitigen Vertrauens und nicht des Misstrauens gegenüber Mitarbeitern, wie sie sonst in amerikanisch geführten Unternehmen, die auf Unternehmenskonzepte wie Taylorismus und Fordismus aufbauen, vorherrscht. Anstatt Geld-Anreize zu schaffen, um die Arbeitsmotivation der Mitarbeiter zu steigern, setzt Lanxess auf die eigenen Zahlen, die Wettbewerbsfähigkeit und beteiligt die Mitarbeiter am Unternehmensgewinn.

Doch welche Rolle hat die Politik in dem Spiel? Da jeder seines Glückes Schmied ist, wie es auch die amerikanische Verfassung festschreibt, bleibt die Politik in der Frage eigentlich außen vor. Durch Gesetze kann sie allenfalls korrigierend in den Markt eingreifen und so Leid und Schmerz für den Bundesbürger vermeiden helfen. In den fünfziger Jahren hat die Bundesregierung einen gewissen Zusammenhang zwischen Wachstum und allgemeinem Wohlbefinden der Nachkriegsbevölkerung erkannt. Doch Umfragen belegen mittlerweile, dass derzeit steigendes Wachstum keine Auswirkung mehr auf die individuelle Zufriedenheit der Bundesbürger hat.

Dass Politik hier weiterdenken muss, zeigt allein schon die von Nicolas Sarkozy eingerichtete Kommission 2009 in Paris. Ergebnis der Kommissionsarbeit war es, dass in modernen Gesellschaften die reine Orientierung am Wirtschaftswachstum und Einkommen als Parameter des Glücks zu kurz greifen. Auch die in Großbritannien eigens eingerichtete "Behavioural Economics Task Force" (BETF), die den Premierminister berät, kommt zu vergleichbaren Schlüssen.

Geld ist nicht alles - Politiker müssen weiter denken

Hermann Ott, Sprecher für internationale Klimapolitik der Grünen und Mitglied der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität”, sieht politischen Handlungsbedarf darin, der Ökonomisierung der Lebensbereiche entgegen zu wirken. Geld ist nicht alles. Im Hinblick auf den Treibhauseffekt und Klimawandel müsse die Politik Rahmenbedingungen schaffen, "damit wir künftig besser leben, ohne mehr zu haben”.

Die Enquete-Kommission ist vor die Aufgabe gestellt, das BIP als alleinige Messgröße für gesellschaftliches Wohlergehen weiter zu entwickeln und durch soziale, ökologische und kulturelle Kriterien zu ergänzen, so Daniela Kolbe, Vorsitzende der neuen Enquete-Kommission. Denn das rein ökonomische Kalkül bezieht Umweltschäden nicht mit ein.

Bisher ist das BIP gestiegen, wenn beispielsweise nach der Verseuchung des Golfs von Mexiko staatliche Subventionen flossen oder eine Straße gebaut wurde. Doch der Verlust der Natur war keine Rechengröße. Das will die Kommission aus 17 Abgeordneten und 17 Wissenschaftlern nun ändern. Die neue Messgröße für Wirtschaftswachstum heißt Lebensqualität und bezieht darin die Verteilung des Wohlstands, Arbeitsqualität, die Lage von Natur und Umwelt, Lebenserwartung, Bildungschancen und subjektive Zufriedenheit in die Wachstumsberechnungen mit ein.