Da bekomme ich eine Gänsehaut

Die exil-iranische Aktivistin Fathiyeh Naghibzadeh über den Aufstand in Ägypten, die Moslembrüder und die Rolle des Iran

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Fathiyeh Naghibzadeh stammt aus dem Iran und lebt seit 1985 in Berlin im Exil. Sie studierte Pädagogik und ist heute eine Akivistin der exiliranischen Opposition. Naghibzadeh ist Co-Regisseurin des Films "Kopftuch als System - machen Haare verrückt" und Gründungsmitglied des "Mideast Freedom Forum Berlin". Sie veröffentliche mehrere Beiträge, zuletzt in dem Band "Verratene Freiheit. Der Aufstand im Iran und die Antwort des Westens", der gerade im Berliner Verbrecher Verlag erschienen ist.

Wie verfolgen und beurteilen Ihre Landsleute im Iran eigentlich die jetzigen Aufstände in Ägypten und Tunesien?

Fathiyeh Naghibzadeh: Mit hoher Anteilnahme. Natürlich auch mit gemischten Gefühlen, wenn man erlebt, dass der Einfluss der Moslembrüder täglich zunimmt.

Wie sind denn die Beziehungen zwischen dem iranischen Regime und den Moslembrüdern?

Fathiyeh Naghibzadeh: Manchen in der iranischen Regierung sind die Moslembrüder nicht radikal genug. Es ist interessant, was an den letzten Tagen geschah: Die iranische Regierung hat sich öffentlich mit dem Aufstand in Ägypten solidarisiert und hat die Demonstranten zur einer Revolution nach Vorbild des Iran aufgefordert. Dem haben die ägyptischen Moslembrüder schnell öffentlich widersprochen: Nein, das sei keine islamische Revolution: Auf der Straße demonstrieren auch Christen, es handle sich nicht um eine religiöse Umwälzung. Ägypten hat ein Mehrparteiensystem.

Die Position der Moslembrüder ist ambivalent. Sie fordern jetzt vor allem eine Änderung der Verfassung ein, plädieren für freie Wahlen. Aber man weiß nicht, was sie tun werden, sollten sie in Wahlen gewinnen. Denn neulich sagte ein Führer der Moslembrüder in der BBC: Wir wünschen uns auch einen so großartigen Präsidenten wie Achmadinedschad. Wenn ich das höre, bekomme ich eine Gänsehaut.

Im Westen werden die Moslembrüder gern als Teil einer islamischen Erweckungsbewegung dargestellt, die eine allgemeine Eroberung der Macht anstrebt. Ohne den Fehler zu machen, dass man alles über einen Leisten schlägt: Wo sind aus Ihrer Sicht die Gemeinsamkeiten zwischen den ägyptischen Moslembrüdern und dem iranischen Islamismus, die Ähnlichkeiten? Gibt es überhaupt die Vorstellung einer islamischen Einheit?

Fathiyeh Naghibzadeh: Die Moslembrüder waren ursprünglich das Vorbild der iranischen Revolution. Unsere islamistischen Revolutionäre von 1979 waren von den Moslembrüdern sehr beeindruckt. In den 1940er, 1950er Jahre kursierten viele ihrer Schriften im Iran. Ägypten ist zentral für alle moslemischen Länder. Denn dort liegt die islamische Universität. Von dort kommen fast alle Theoretiker des Islamismus.

Wenn sie an die Macht kommen, ist es schnell vorbei mit der Demokratie

Was haben die Moslembrüder für ein Verhältnis zur Demokratie?

Fathiyeh Naghibzadeh: Meiner Meinung nach nutzen sie sie aus. Sie benutzen sie. Wenn sie an die Macht kommen, ist es schnell vorbei mit der Demokratie.

Das ist sehr pessimistisch. Es bedeutet eigentlich: Wir hätten Mubarak verteidigen sollen?

Fathiyeh Naghibzadeh: Das ist sehr schwer zu beantworten. Wenn es die ägyptische Opposition nicht schafft, für sich eine kluge laizistische Position zu finden, den Einfluss der Religion auf Staat und Politik so klein wie möglich hält und sich von den Moslembrüdern distanziert, dann würde ich sagen: Ja, lieber Mubarak, als Moslembrüder. Das ist bitter. Und für mich als Iranerin, die der Revolution Erfolg wünscht, erst recht.

Andererseits ist auch klar: Iran hat Öl und Gas. Das macht das Land unabhängig. Ägypten und Tunesien sind viel abhängiger von Tourismus. Sie sind abhängig vom Westen und könnten sich auch unter eine Regierung der Moslembrüder eine Politik wie der Iran vermutlich gar nicht leisten. Sie müssen vorsichtiger agieren. Also: Dass die Länder sich wie der Iran entwickeln, glaube ich nicht. Aber Frieden in Nahost können wir dann vergessen. Ägypten würde seine Israelpolitik radikal verändern.

Man muss sehen, dass im Nahen Osten eine völlig neue Generation von Bürgern entstanden ist

Die Aufständischen im Iran waren doch moderne, urbane junge Menschen: Die Kinder von Internet und Coca-Cola, sie lieben Filme und Popkultur des Westens. Stimmen Sie denn der These zu, dass wir gerade den "Untergang der islamischen Welt" erleben, der Islamismus deren letzte Blüte und gewissermaßen ein Indiz ihres Verfalls ist?

Fathiyeh Naghibzadeh: Diese These kommt mir sehr naiv vor. Gott bewahre uns davor, wenn die Islamisten an die Macht kommen. Aber man muss sehen, dass im Nahen Osten eine völlig neue Generation von Bürgern entstanden ist - zu Recht spricht man von der "Facebook-Generation". Sie wollen eine offene Gesellschaft. Die Menschen auf der Straße haben eindeutig gegen ihre Väter demonstriert. Sie haben die Slogans gegen Israel und Amerika nicht übernommen - sie haben das umgedreht und gegen Unterstützer des Regimes demonstriert, es wurden auch Parolen gegen die Hizbollah gerufen - das war natürlich ein Affront.

Es gab ganz eindeutige Signale gegen jede Form von Diktatur. Das war die Stimme des Iran. Die jungen Iraner haben aus der Geschichte gelernt.

Der Westen ist sehr feige

Außerdem werden die Moslembrüder doch von Saudi-Arabien finanziert, nicht vom Iran. Wie beurteilen Sie eigentlich das Verhalten des Westens?

Fathiyeh Naghibzadeh: Ich bin doppelt enttäuscht. Zunächst teile ich die Enttäuschung der Menschen im Maghreb wie im Iran über das Verhalten des Westens. Man redet immer über die jüdische Lobby in Amerika, aber nie über die iranische Lobby, die es dort auch gibt. Der Westen ist sehr feige. Besonders Obama. Er scheut klare Worte, hält sich bedeckt, hat vor allem Angst vor Fehlern. So kann man keine erfolgreiche Politik machen. Wenn Obama Reden hält, geht es um Freiheit und Demokratie. Aber es folgen keine Taten. Natürlich hat die USA Mitschuld daran, wie sich das Mubarak-Regime entwickelt hat. Da hätte man viel mehr Einfluss üben können. Ich bin aber auch enttäuscht von Europa.

Warum?

Fathiyeh Naghibzadeh: Die europäischen Medien berichten sehr Anti-Mubarak. Der Grund ist klar: Es ist der latente Antiamerikanismus der Europäer: Mubarak ist Pro-Amerika, also ist er schlecht. Aber die Grüne Revolte war auch proamerikanisch. Das hat das Weltbild vieler Europäer irritiert.

Das Schlimmste allerdings ist natürlich die Tatsache, dass europäische Konzerne die Waffentechnik liefern, mit der die Opposition in Ägypten, wie im Iran unterdrückt wird: Mobilfunküberwachung, Internetsperren. Man sollte boykottieren, die Europäer sollten gegen die Kommunikations-Konzerne demonstrieren. Und die deutsche Kanzlerin Merkel hat sich leider gerade erst in Israel, obwohl die israelische Regierung um einen entsprechenden Boykott des Iran gebeten hatte, absolut gegen Wirtschaftsboykotte ausgesprochen. Das ist traurig und völlig falsch. Diese Politik unterstützt de facto Tod und Folter.

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