Ist der Goldstone-Report tot?

Morgen debattiert der Bundestag über den Goldstone-Report zu den Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg. Zu diesem Report stellt Telepolis einige Fragen an den Völkerrechtler Dr. Norman Paech

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Im Bundestag wird über den Antrag der Linkspartei beraten, die Forderungen des Goldstone-Berichts zu unterstützen.Bereits im September 2009, wenige Monate nach dem Ende des Gaza-Kriegs, veröffentlichte der UN-Untersuchungsausschuss für Menschenrechte einen Bericht, den so genannten Goldstone Bericht.1

Dieser Bericht bestätigt in erschütternder Weise, was sich bereits während Israels Krieg in Gaza deutlich abgezeichnet hat: Israel und bewaffnete palästinensische Gruppen haben sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht. Dabei fällt die Beurteilung der israelischen Verstöße gegen internationales Recht weit drastischer aus: Von kollektiver Bestrafung ist die Rede, von unangemessener Gewaltanwendung gegenüber der Zivilbevölkerung bis hin zur Bombardierung von Gebäuden, in die die Bevölkerung vorab von israelischen Soldaten getrieben wurde.

Zitiert nach dem Klappentext von Melzer, Abraham (Hrsg.): Bericht der Untersuchungskommission, Neu Isenburg 2010.

Die hier erhobenen Vorwürfe sind bis heute nicht gründlich untersucht worden. Erst kürzlich musste der UN-Menschenrechtsrat wieder eine Frist verlängern, die er der israelischen und palästinensischen Seite zur Aufarbeitung ihrer Kriegsverbrechen gesetzt hatte.2 Kein Wunder also, dass die Hohe Flüchtlingskommissarin für Menschenrechte, Navanethem Pillay, gleich bei ihrem ersten offiziellen Besuch in die besetzten palästinensischen Gebieten mit der Frage konfrontiert wurde, ob der Goldstone-Bericht bereits tot sei (Is the goldstone report dead, High Commissioner?) oder ob man sich doch noch berechtigte Hoffnungen darauf machen dürfe, dass den Opfern der Menschenrechtsverbrechen Gerechtigkeit wiederfährt.

Der Internationale Strafgerichtshof sollte die Vorwürfe prüfen

Herr Paech, seit September 2009 liegt uns der Goldstone-Bericht vor, der insbesondere Israel vorwirft, schwere Menschen- und Völkerrechtsverbrechen im Gaza-Krieg begangen zu haben. Was ist seitdem geschehen, um den Vorwürfen nachzugehen und die Beschuldigten vor Gericht zu bringen?

Norman Paech: Bisher leider nicht viel. Der UN-Menschenrechtsrat hat einen Expertenausschuss eingesetzt, der im Einzelnen nachprüfen sollte, ob Israel und die Palästinenser den im Goldstone-Bericht erhobenen Vorwürfen ernsthaft und gründlich nachgegangen sind. Die Israelis haben den Ausschuss mit der gleichen Verachtung behandelt wie die Goldstone-Kommission und jede Mitarbeit abgelehnt. Die Palästinenser haben sehr offen kooperiert und eingeräumt, dass sie nichts zur Verfolgung der Täter (Raketenbeschuss) unternommen hätten.

Wir müssen allerdings davon ausgehen, dass auch die israelische Justiz keine Ermittlungen unternommen hat, die den schwerwiegenden Vorwürfen von Kriegsverbrechen annähernd entsprochen hätten. Da damit im Falle Israels auch in Zukunft nicht zu rechnen ist, und die Palästinenser in Gaza wahrlich andere Sorgen des Überlebens haben, als gegen ihre sich seinerzeit verzweifelt gegen den israelischen Angriff wehrenden Kämpfer zu ermitteln, gehört der ganze Komplex vor den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Dort muss die Berechtigung der Vorwürfe gegen alle geprüft und die erwiesenen Täter müssen verurteilt werden.

Israel gilt gemeinhin als Rechtsstaat. Dass ausgerechnet Israel bislang nicht in der Lage gewesen seien soll, den Forderungen des Goldstone-Berichts nachzukommen, kann deshalb überraschen. Wie erklären Sie sich das?

Norman Paech: In allen Fragen der - völkerrechtswidrigen - Besatzungspolitik und des damit verbundenen Kampfes gegen die Palästinenser funktioniert der Rechtsstaat außerordentlich schlecht, wenn überhaupt. Würde Israel diesen Titel "Rechtsstaat" verdienen, müsste es die Besatzungspolitik, den Kern allen Übels, aufgeben, seine Siedler zurückziehen, die Sperrmauer vom palästinensischen Territorium entfernen, die Annexion Jerusalems aufgeben und erhebliche Entschädigungen an die palästinensischen Opfer zahlen. Von allem ist die israelische Regierung weit entfernt. Sie versucht, ihren Krieg als Verteidigungskrieg gegen die Raketen, die aus dem Gazastreifen auf israelisches Territorium gefeuert werden, zu rechtfertigen. Seit langem war allerdings schon in der israelischen Zeitung Haaretz zu lesen3, dass der Krieg von Barak von langer Hand geplant und vorbereitet worden war, eine Rechtfertigung gem. Art. 51 UN-Charta nicht gegeben war. Der Bericht hat zudem die vollkommen unverhältnismäßige Kriegsführung der israelischen Armee gerügt. Die Tatsache, dass die israelische Regierung die Bemühungen der Goldstone-Kommission um eine unabhängige Untersuchung der Geschehnisse total boykottierte, spricht nicht für ihre Rechtfertigung.

Weder die israelische noch die palästinensische Seite scheinen gegenwärtig in der Lage zu sein, ihre Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen. Wer könnte stattdessen etwas unternehmen?

Norman Paech:. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag wäre das angemessene Gremium, wie es auch die Goldstone-Kommission vorgeschlagen hat. Da Israel sich jedoch nicht seiner Rechtsprechung unterworfen hat, könnte nur der Sicherheitsrat die Kriegsverbrechen des Militärs und der politischen Führung vor den IStGH bringen. Er hat das im Fall Sudan/Darfur mit dem Präsidenten des Sudan EL Bashir gemacht. Es käme allerdings einer politischen Revolution gleich, wenn die USA, Großbritannien und Frankreich eine solche Entscheidung mittragen würden. So bleibt nur Anklage vor einzelnen nationalen Strafgerichten, die über ein sog. Völkerstrafrecht verfügen, wie z.B. Norwegen, Großbritannien, Belgien, Spanien, aber auch Deutschland.

In Deutschland gibt es das Völkerstrafgesetzbuch. Inwieweit hält dieses eine Möglichkeit bereit, von Deutschland aus Anzeige gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher in Israel/Palästina zu stellen?

Norman Paech: Deutschland hat parallel zu den Diskussionen um die Entwicklung eines internationalen Strafrechts (Römisches Statut von 1998) und die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ein eigenes Völkerstrafrecht entwickelt. Es stellt im Wesentlichen dieselben Tatbestände unter Strafe wie das Römische Statut (Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord etc.). Seine Besonderheit liegt darin, dass es zur Eröffnung eines Verfahrens weder beim Täter noch bei dem Opfer oder der Tat einen Bezug zu Deutschland verlangt. Es wäre also möglich, eine Anzeige gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher in Israel oder Gaza zu stellen. Ich weiß nicht, ob das geschehen ist. Die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Free Gaza Flottille im Mai 2010 haben eine Anzeige gegen "Unbekannt", gegen die israelischen Angreifer, wegen Entführung, Nötigung etc. bei der Bundesanwaltschaft eingereicht. Dort liegt sie jetzt seit acht Monaten. Nach Auskunft aus der Bundesanwaltschaft wartet man noch darauf, bis sämtliche internationalen Untersuchungen abgeschlossen sind.

Erreicht werden müsste durch den Prozess eine Abschreckungswirkung für Militär und Regierungen

Herr Paech, was wären die Folgen, wenn der Goldstone-Bericht nicht umgesetzt und die Verbrechen nicht geahndet würden?

Norman Paech: In meiner Vorstellung geht es nicht so sehr darum, die Täter hinter Gitter zu bringen. Wichtiger ist zunächst der gerichtsfeste Nachweis der Taten, damit sie nicht wieder bestritten werden und die Täter sich aus der Verantwortung stehlen können. Sodann müssen die Staaten mit dem Prozess ein eindeutiges Zeichen setzen, dass sie nicht gewillt sind, derartige Verbrechen mit Stillschweigen zu übergehen, sondern auch in Zukunft die Täter zur Verantwortung ziehen werden. Ein solcher Prozess muss für Militär und Regierungen eine Abschreckungswirkung erzielen, dass sie sich in Zukunft an die Normen des humanitären Völkerrechts halten. Die Prävention zukünftiger Kriegsverbrechen ist wichtiger als die Sühne der vergangenen, obwohl Prävention ohne Sühne und Vergeltung oft nicht möglich sein wird.

Ihre Antwort hebt darauf ab, wie der Goldstone-Report aus Ihrer Sicht am besten umzusetzen wäre, nämlich als Mittel zur Prävention. Das beantwortet aber noch nicht die Frage: Was, wenn dieser Bericht auch weiterhin nicht umgesetzt wird?

Norman Paech: Das wäre eine schwere Niederlage für das Rechtsdenken, wie es sich seit den Nürnberger Prozessen bis heute durchgesetzt hat. Der damalige US-Ankläger Robert Jackson hatte am 21. November 1945 in Nürnberg erklärt: "Denn wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher zu reichen, bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen. Wir müssen an unsere Aufgabe mit so viel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, dass dieser Prozess einmal der Nachwelt als die Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge."4

Über diese "geistige Unbestechlichkeit" verfügen die entscheidenden Mitglieder des UN-Sicherheitsrats offensichtlich noch nicht. Es wäre aber auch eine schwere politische Niederlage, da eine solche ohnmächtige Gerichtsbarkeit keine Warnung an zukünftige Täter aussprechen kann.

Norman Paech ist emeritierter Professor für Verfassungs- und Völkerrecht. Von 2005 bis 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und Außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE. Im Mai 2010 war er an Bord der Mavi Marmara, einem internationalen Hilfskonvoi, der mit dem Ziel in See gestochen war, die Gaza-Blockade zu durchbrechen.

Website von Sarah Meggle