Gebäude der Macht

Anhand des wahrscheinlich ersten Hochhauses der Geschichte in Jericho versuchen sich Archäologen an dessen Deutung

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Hochhäuser entstehen, so dürfte man geneigt sein zu sagen, wenn in den Zentren der Städten die Grundstückspreise so stark steigen, dass das Bauen in die Höhe auch von den Kosten her attraktiv wird, sofern man nicht an den Rändern der Stadt nach billigeren Grundstücken sucht, wodurch aber die Entfernung zum Zentrum wächst. Wolkenkratzer sind hoch verdichtete Räume, vertikale Straßen mit Hochgeschwindigkeitsaufzügen, der Inbegriff der Stadt schlechthin, der gebauten Zentralität.

Allerdings werden viele der Wolkenkratzer weniger aus wirklich funktionalen Gründen gebaut, sondern es sind Prestigebauten, die Macht und Bedeutung suggerieren sollen und auch deswegen im Zentrum der Städte errichtet werden, wenn sie nicht von vorneherein wie zuletzt in den Golfstaaten einer Spektakelarchitektur für Monarchen dienen, die in der Wüste Städte simulieren und sich selbst verewigen wollen. Die Anschläge vom 11.9., die die WCT-Türme trafen, waren auch deshalb so beeindruckend, weil diese die wirtschaftliche Macht der USA repräsentierten.

Wer hat den höchsten hat, prägte schon die Geschichte vom Turmbau zu Babel, die die Machtfrage ins Zentrum stellte. Wer einen Turm bis zum Himmel bauen will, macht damit die Herrschaft Gottes streitig, was nach damaligen Vorstellungen den Zorn von diesem hervorruft. Biblisch hat Gott das Großprojekt verhindert, indem er die Kommunikation der Menschen erschwerte.

Der angeblich erste "Wolkenkratzer" in Jericho. Bild: Kenyon & Holland/Antiquity

Der angeblich erste "Wolkenkratzer" war bescheidene 8,5 Meter hoch und soll ein Turm am westlichen Rand von Jericho sein, dessen Überreste 1952 gefunden wurden. Jericho war eine der ersten Städte, die mit einer vier Meter hohen Stadtmauer umgeben wurde. Das geschah vor etwa 11.000 Jahren, noch bevor die Menschen mit der Landwirtschaft begannen und als Stadtbewohner weiterhin als Jäger und Sammler lebten. Man schloss sich in den verdichteten Raum der neuen künstlichen Welt der Stadt ein und schuf, auch wenn erst nur ein paar tausend Menschen wie in Jericho in ihr lebten, einen kulturellen Drucktopf, der fortan die Dynamik der menschlichen Geschichte prägen sollte.

Warum die Bewohner aber neben der Stadtmauer auch einen Turm gebaut haben, war bislang unbekannt. Wissenschaftler der Tel Aviv University glauben nun, wie sie in der Zeitschrift Antiquity schreiben, den Grund erkannt zu haben. Man wird es schon erraten, es soll wieder einmal um Macht gehen. Und das erschließen die Archäologen aus der genauen Position des Turms und mit Google SketchUp.

Die Treppe im Innern des Turms. Bild: Antiquity

Er soll sich nämlich zur Sonnenwende exakt dort befunden haben, wo der Schatten des nahe gelegenen Quruntul-Hügels am längsten Tag des Jahres zuerst den Turm und dann die Stadt erreichte. Die Stufen innerhalb des Turms sind im präzisen Winkel zur untergehenden Sonne am Tag der Sonnenwende gebaut. Der Turm könnte so ein architektonischer Versuch sein, die von der umgebenden Natur deutlich ausgegrenzte Stadt wieder mit den umgebenden Hügeln und der untergehenden Sonne und damit zum Kosmos zu verbinden.

Die Deutung des Turms, der noch dazu das erste öffentliche Gebäude sein soll, durch die Archäologen bleibt allerdings hoch spekulativ. Sie sagen, der Turm habe als eine Art Wächter gegen die Dunkelheit gedient, als Schutz vor den "metaphysischen Ängsten". Und in der Zeit der beginnenden Hierarchie sei er eine Mahnung gewesen, dass nur die Gemeinschaft mächtig sein könne. Die Ängste seien vielleicht von einigen der Bewohner instrumentalisiert worden, um mit dem "Bauwerk der Macht" Kontrolle über die anderen Menschen zu übernehmen: "Jerichos neolithischer Turm könnte der erste konkrete Beweis für eine organisierte soziale Manipulation und für die Verwendung der Architektur als Mittel zur kalkulierten Kontrolle der Menschen."