Internet-Enquete zwischen Revolution und Politposse

In einer chaotischen Sitzung verspricht die Enquete, die Bürger mehr an ihrer Arbeit teilhaben zu lassen

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Die Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft hatte sich viel vorgenommen. Bei ihrer konstituierenden Sitzung vor über einem Jahr erklärten die Mitglieder der Enquete einmütig, neue Wege in der Bürgerbeteiligung zu gehen. Die Arbeitsweise sollte ein leuchtendes Vorbild sein für transparente Politik und dem immer stärker werdenden Wunsch in der Bevölkerung, direkten Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen zu können, Rechnung tragen. Doch bisher ist davon wenig zu sehen. Die Arbeitsgruppen der Enquete tagen hinter verschlossenen Türen, der bisher erarbeitete Sachstand lässt sich von der interessierten Öffentlichkeit nirgends einsehen. Die Einführung von Adhocracy scheiterte am Ältestenrat des Bundestages - die Nutzung des Opensource-Tools war mit 80.000 Euro angeblich zu teuer.

Damit bleibt die Enquete bisher weit hinter den selbstgesteckten Zielen zurück. Doch dies soll sich nun ändern. Deshalb kam die Kommission gestern zu einer Sondersitzung zusammen, um die Bürgerbeteiligung doch noch möglich zu machen. Selbst die Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) ließ es sich nicht nehmen, der historischen Sitzung beizuwohnen, in der die bisher weitestgehende Bürgerbeteiligung in der Geschichte des Bundestages beschlossen werden sollte. "Bestimmte Ereignisse sollte man sich nicht entgehen lassen", frohlockte sie, als sie kurz vor 14 Uhr den Sitzungssaal im Paul-Löbe-Haus betrat. Doch es passierte zunächst - nichts. Die Vertreter der Regierungsparteien ließen, nebst ihren Experten, die übrigen Kommissionsmitglieder warten.

Mit einer halben Stunde Verspätung eröffnete schließlich Martin Dörrmann (SPD), letztmalig in seiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender, die Sitzung der Enquete. Aus zeitlichen Gründen wird er sein Amt aufgeben, sein Nachfolger wird Gerold Reichenbach (SPD). Dörrmann zeigte sich vollkommen überrascht vom Fehlen des Vorsitzenden Axel E. Fischer (CDU). Union und FDP berieten derzeit noch, um eine gemeinsame Haltung zu finden, teilte Dörrmann der vollkommen verärgerten anwesenden Hälfte der Enquete mit. Fischer wolle daher eine Verschiebung der Sitzung um eine Stunde. Die Stimmung im Sitzungssaal ist gereizt. "Ich geh jetzt nach Hause, ich bin doch hier nicht im Affentheater", so Constanze Kurz. Sie blieb aber, und mit fast 50 Minuten Verspätung konnte die Enquete mit vollständiger Besetzung ihre Arbeit beginnen - doch zu einem konstruktiven Miteinander konnte die Enquete nicht mehr finden.

So begann Axel E. Fischer die Sitzung mit einem eher pessimistischen Ausblick in puncto Bürgerbeteiligung. Er bedanke sich bei allen, die über das Forum und den Blog die Arbeit der Enquete bereichert haben, so Fischer. Allerdings sei nicht zu übersehen, dass nicht alle Bürger über einen Internetzugang oder ausreichend Zeit verfügen, sich beispielsweise mittels Adhocracy zu beteiligen, brachte Fischer neue Einwände gegen den Einsatz dieses Werkzeuges ins Gespräch. Zudem wies Fischer, der für ein "Vermummungsverbot" im Internet eintritt darauf hin, dass er die fehlende Identifizierbarkeit der Beteiligten im Internet für problematisch hält.

Andere Enquete-Mitglieder zeigten sich hingegen deutlich unzufriedener mit der derzeitigen Situation in der Enquete bezüglich der Bürgerbeteiligung. Jens Koeppen (CDU) bedauerte, dass ein derart großer Zeitverlust bei der Etablierung eines weiteren Beteiligungswerkzeuges eingetreten sei. Daher solle eine Online-Beteiligungsgruppe ins Leben gerufen werden, um dieses Problem zu lösen. Zudem sollten alle Texte der Arbeits- und Projektgruppen ohne weitere Verzögerung veröffentlicht werden, damit der 18. Sachverständige diese diskutieren könne.

Lars Klingbeil (SPD) erinnerte daran, dass die Enquete auch von Anfang an als Experimentierraum für neue Formen der Transparenz gedacht war. Jedoch sei die Kommission diesem "zentralen Anspruch" nicht gerecht geworden und habe sich damit keinen Gefallen getan. Beteiligung sei mehr als lediglich ein Forum, einen Twitteraccount und eine Mailadresse anzubieten, mahnte Klingbeil. Zugleich kritisierte er die Ablehnung des Ältestenrates für den Einsatz von Adhocracy. Woher die genannten Kosten von 80.000 Euro für den Einsatz der Software kommen, weiß auch Klingbeil nicht. Ähnlich kritisch zur bisherigen Form der Öffentlichkeitsbeteiligung in der Enquete äußerten sich auch Vertreter von FDP, Grünen und Linken.

Um die Bürgerbeteiligung mittels Adhocracy voranzubringen, brachten daher die fünf Sachverständigen Nicole Simon, Constanze Kurz, Alvar Freude, Markus Beckedahl und padeluun einen Antrag ein, welcher vorsieht, dass die Sachverständigen aller Fraktionen innerhalb von zwei Tagen kostenfrei Adhocracy für die Enquete zur Verfügung stellen wollen. Weiterhin sieht der Antrag die Einsetzung einer Arbeitsgruppe zur Onlinebeteiligung vor, welche Verfahren und Prozesse erarbeiten soll, die die Bürgerbeteiligung regeln.

Dabei sei es wichtig, dass Adhocracy das zentrale und offizielle Beteiligungswerkzeug der Kommission werde, damit die Leute nicht "für den Mülleimer" arbeiteten, so Freude. Er betonte, dass die derzeit noch geringe Bürgerbeteiligung in der Enquete auch mit dem Fehlen eines geeigneten Werkzeugs zusammen hänge.

Während die Opposition grundsätzlich den Antrag der Sachverständigen unterstützte, kamen von den Regierungsparteien Bedenken. Mit Blick auf die Entscheidung des Ältestenrates zum Adhocracy-Einsatz erklärte Koeppen, man dürfe nicht noch einmal mit dem selben Kopf durch die selbe Wand gehen. Adhocracy könne, wenn es außerhalb des Deutschen Bundestages eingerichtet werde, nicht das offizielle Werkzeug der Kommission werden. Auch Manuel Höferlin (FDP) warnte die Enquete, etwas zu beschließen, was sie gar nicht beschließen könne. Es folgte eine hitzige Debatte über die Beschlussvorlage der Sachverständigen sowie einige Änderungsanträge, wobei selbst über die Reihenfolge der Abstimmung teils heftig gestritten wurde. Einzelne Mitglieder der Kommission wie beispielsweise Halina Wawzyniak (Linke) versuchten dabei, die Anwesenden wieder zu Ordnung zu rufen. "Das was wir hier machen, führt draußen zu nichts anderem als Politikverdrossenheit", so Wawzyniak entnervt.

Die Enquete beschloss schließlich einen geänderten Antrag, wonach die Kommission die Sachverständigen nicht mehr beauftragt, Adhocracy einzurichten, sondern den Vorschlag, ebendies zu tun, lediglich "begrüßt". Axel E. Fischer stimmte gegen den Antrag und begründete dies mit rechtlichen Bedenken. Da der Ältestenrat die Einrichtung dieses Tools im Bereich des Deutschen Bundestages nicht gestattet habe, könne das Sekretariat der Kommission nicht die Einrichtung desselben außerhalb des Bundestages unterstützen, so seine Begründung. Fischer will dies nun durch den Direktor beim Deutschen Bundestag klären lassen. Im Blog der Enquete sieht sich Fischer durch diesen Entschluss massiver Kritik von Bürgern, aber auch von Alvar Freude ausgesetzt. Ihm wird vorgeworfen, die Bürgerbeteiligung verhindern zu wollen.

Während die Sitzung der Enquete eine Chance war, die Bürgerbeteiligung im Bundestag generell voranzubringen, sehen die Mitglieder der Enquete den Beschluss mit gemischten Gefühlen. Während Jimmy Schulz (FDP) sich nach der Sitzung über eine "Revolution" freute, sieht Markus Beckedahl in dem Beschluss vor allem eine Verzögerung des Adhocracy-Einsatzes. Auch die Linke sieht in dem Beschluss einen Rückschlag für die Bürgerbeteiligung.