Ist Guttenberg ein Hochstapler?

Die Soziologin Sonja Veelen über die komplexen Fähigkeiten von Hochstaplern und warum Ex-Verteidigungsminister Guttenberg keiner ist

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Sie ist Gegenstand von Filmen und wird in der Literatur thematisiert: die Hochstapelei. Wissenschaftliche Forschungen über Hochstapler gibt es kaum, der Psychologe Rudolf Sponsel hat sich etwa mit den Psychopathologische Ausprägungen der Hochstapelei auseinander gesetzt. Sonja Veelen hat sich aus soziologischer Perspektive intensiv mit dem Phänomen auseinandergesetzt. Im Telepolis-Interview spricht sie über Hochstapler und einen Ex-Verteidigungsminister, der sagt, er habe in seiner Doktorarbeit Fehler gemacht.

Frau Veelen, Sie promovieren zur Zeit am Institut für Soziologie der Marburger Philipps-Universität. Ihre zuvor abgelegte Diplomarbeit trägt den bezeichnenden Titel: "Techniken zur Herstellung gefälschter Identität. Eine soziologische Analyse der Hochstapelei." Was ist ein Hochstapler?

Sonja Veelen: Stark vereinfacht ausgedrückt ist ein Hochstapler jemand, der vortäuscht, eine höhere gesellschaftliche Position zu haben, als ihm aufgrund seines vorhandenen Kapitals und dessen Zusammensetzung zusteht; wobei hier unter Kapital neben materiellen Ressourcen auch kulturelle und soziale Kapitale (wie Wissen, Bildungstitel, Prestige und soziale Netzwerke) verstanden werden.

Nun ist vor kurzem der Bundesverteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg zurückgetreten. In seiner Doktorarbeit hat man Plagiate gefunden. Grünen Politiker Jürgen Trittin, aber auch diverse Medien, bezeichneten Guttenberg als Hochstapler. Ist Guttenberg ein Hochstapler?

Sonja Veelen: Gemessen an den hoch komplexen Fähigkeiten und Techniken, die ein Hochstapler einsetzen muss, um per definitionem als solcher zu gelten und letztlich erfolgreich tätig zu sein, muss ich sagen: nein.

Können Sie das näher erläutern?

Sonja Veelen:. Die Anforderung an eine gelungene Hochstapelei liegt nicht darin, plump ein Zeugnis oder eine Urkunde zu fälschen oder, um beim Beispiel Guttenberg zu bleiben: trotz fehlerhafter Dissertation einen Doktortitel verliehen zu bekommen. Solche "kleine" "Betrügereien" sind für Hochstapler eher notwendiges Mittel zum Zweck. Die eigentliche Schwierigkeit liegt darin begründet, dass in allen gesellschaftlichen Feldern ganz bestimmte, unausgesprochene, aber äußerst wirkmächtige Regeln herrschen, die sich von Feld zu Feld deutlich unterscheiden. Diese "Regeln" umfassen Kleiderordnungen, bestimmte Gesten, Mimiken, die Art zu gehen, zu sprechen, den Kaffee umzurühren, sie umfassen Vorlieben für bestimmte Autos, Zigarettenmarken, Zeitungen, Sportarten, und vieles mehr. Wer als Hochstapler in "falschen" Gefilden unterwegs ist und den Verhaltenscodex nicht beherrscht, fällt schnell auf. Die Nichtbeherrschung der Regeln bedeuten das Aus für jeden Hochstapler.

Hochstapelei ist mehr als eine Lüge

Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

Sonja Veelen: Nehmen wir den Fall Gert Postel. Er hat als Postbote ohne Approbation als leitender Oberarzt gearbeitet. Aus einem Interview, das ich mit ihm führte, weiß ich z.B., dass er, um seiner Position Nachdruck zu verleihen, auch mal über die Station geschrien hat "wie ein Wahnsinniger", so dass die nachgeordneten Ärzte glaubten, "sie würden gleich geschlagen". Auch im Oberarztalltag gelten klare Regeln, so erklärte Gert Postel mir [in besagtem Interview]: "Sie müssen, wenn Sie ne Oberarzt-Visite machen ne bestimmte Inszenierung haben. Das ist ne Liturgie, … die stimmen muss. Es ist schon wichtig, wo Sie die Hände tragen und wie Sie auftreten."

Also zur Hochstapelei gehört mehr als das, was Guttenberg gemacht hat?

Sonja Veelen: Ja, ganz klar. Die Hochstapelei ist mehr als bloßes Lügen und sehr viel mehr als eine fehlerhafte Verfassung einer Doktorarbeit, sie ist eine perfekte Inszenierung, die sich intuitiv und nahezu fehlerfrei an den im spezifischen Feld geforderten Regeln orientiert.

Die gesellschaftlichen Reaktionen auf Guttenberg waren sehr aufgeregt. Wie erklären Sie die Stimmen der Empörung?

Sonja Veelen: Man muss unterscheiden zwischen den Reaktionen der allgemeinen Bevölkerung, zwischen denen der politischen Parteien und denen des akademisches Feldes.

Das heißt?

Sonja Veelen: Bildungstitel sind Zugangsvoraussetzung und "Türöffner" für bestimmte gesellschaftliche Positionen und stehen damit für erweiterte Chancen. Da sie auf eine langwierige, intensive Arbeitsperiode verweisen, sind sie mit gewissem Ansehen verknüpft. Zudem sind sie ein Symbol, das auf Autorität und Expertentum verweist. Auch Hochstapler "arbeiten" mit solchen Symbolen, weil sie um deren Macht wissen: So bewarb sich z.B. Gert Postel als "Dr. Dr. Clemens Bartholdy" auf eine Amtsarzt-Stelle, weil er dachte, bei "zwei Doktortiteln werden die Fragen weniger", das Geniale stünde dann im Raum und mache die Leute blind. "Was übrigens auch zutrifft", urteilte Postel. Gehorsamkeit der Untergebenen nennt das der Psychologe Cialdini.

Brüchigkeit des Systems

Gut, nehmen wir mal an, jemand "erschummelt" sich einen Bildungstitel. Was bedeutet das?

Sonja Veelen: Wenn sich jemand einen Bildungstitel unlauter erwirbt, sich also die damit einhergehenden "Vorteile" unlauter verschafft, kratzt dies nicht nur an der Wertigkeit und dem Ansehen solcher Bildungstitel. Es verspottet auch diejenigen, die im festen Glauben an eine mögliche Erweiterung des kulturellen Kapitals viel Zeit und Arbeit für diese Erweiterung investieren.

Gibt es weitere Gründe für die Empörung?

Sonja Veelen: Ein weiterer Grund für die Empörung ist sicherlich, dass die Brüchigkeit des Systems deutlich wird: Die Versprechen der Leistungsgesellschaft werden nicht eingelöst, die Prinzipien nicht eingehalten: Nicht (allein) Fleiß und ehrliche Leistung führen zum Erfolg, sondern scheinbar auch "Abkürzungen", "Fehler". Das ist vor allem für diejenigen ein herber Schlag, die an die Gültigkeit dieser Prinzipien glauben, die ihren Kindern Ehrlichkeit beibringen wollen und die selbst auf Leistung setzen – in der Hoffnung auf Erfolg.

Umgekehrt gibt es natürlich diejenigen, die Guttenberg die "Fehler" nachsehen, diejenigen, die über eine gelungene Hochstapelei herzlich lachen – oder sogar den Hut davor ziehen. Wie kommt das?

Sonja Veelen: Im Falle Guttenberg und seiner "fehlerhaften" Dissertation hängen die Reaktionen mit der Wertigkeit, die dem Plagiatsverdacht beigemessen werden, zusammen. Das heißt: Die Dissertation war weder Zugangsvoraussetzung für seine Funktion als Verteidigungsminister noch ist die wissenschaftliche Arbeit sein jetziges Aufgabengebiet.

Anders formuliert: Operiert ein "falscher" Arzt unerlaubterweise und ungekonnt Patienten, die im Zuge dieser angewandten Inkompetenz sterben, so wird dies sicherlich anders bewertet als wenn ein "falscher" Wissenschaftler durch Inkompetenz oder bewusste Täuschung fremde Gedanken als eigene ausgibt. Die gemäßigten Reaktionen auf das Verhalten Guttenbergs dürften vor allem auch von Menschen kommen, die als akademische Laien die Relevanz dieses akademischen Verstoßes als gering einschätzen, also im Verhältnis zu dem, was "echte" Hochstapler oder Betrüger anrichten.

Und wie erklären Sie die parteipolitischen Reaktionen?

Sonja Veelen: Die Akteure im Feld der Politik haben ein klares Ziel: an der Macht sein. Imageverluste eines Repräsentanten der Partei, wie Guttenberg einer war/ist, wirken sich unmittelbar auf die Glaubwürdigkeit der gesamten Partei aus. Infolgedessen versuchte diese – der Logik des politischen Feldes gemäß –, zunächst den Angriff auf das Image abzuwehren, indem sie beschwichtigte, umdeutete und ablenkte. Als deutlich wurde, dass der Imageschaden nicht umzudeuten oder wegzudiskutieren ist, zog Guttenberg (ob auf Geheiß oder nicht, mit Sicherheit im Sinne der Partei) die einzig logische Konsequenz: den Rücktritt. So kann die Partei hoffen, dass der Rücktritt Guttenbergs eine Übertragung des Glaubwürdigkeitszweifels auf die gesamte Partei verhindert.

Nun gibt es auch die Oppositionsparteien, die Guttenberg schwer attackiert haben.

Sonja Veelen: Dass die anderen Parteien gerne am beschädigten Image weiter kratzen ist doch nur systemkonsistent: Schließlich hat auch die Opposition das Ziel, an die Macht zu kommen – und da kommt ein Misstrauensvorwurf gegenüber der Regierung gerade recht.

Fassen wir zusammen: War der Rücktritt von Guttenberg unausweichlich?

Sonja Veelen: Im Alltagshandeln gibt es verschiedene Mechanismen, mit denen man einen drohenden Imageschaden abwenden, eine fehlerhafte Handlung korrigieren kann. Je nach Vergehen ist dies unterschiedlich leicht oder schwer zu bewältigen. Ein versehentlicher Tritt auf den Fuß ist leichter wieder gut zu machen ("Verzeihung, es tut mir leid!") als eine jahrelang verschwiegene Affäre.

Techniken der "Handlungskorrekturen" sind z.B. die Umdeutung der fehlerhaften Handlung als bedeutungslos, als Scherz oder als zumindest nicht bedrohlich. Weitere "Rettungsmaßnahmen" lassen sich auch bei Hochstaplern finden: Dieser kann z.B. mit der Wahrheit bluffen, die Rationalität des Zweiflers durch emotionale Ablenkungsmanöver, irritieren und umlenken. Er kann eine Scheinbeichte vorlegen, indem er eine im Vergleich zur "echten" Täuschung harmlose Flunkerei zugibt, oder spontan das Chamäleon-Prinzip anwenden und sich – je nach Rolle – ad hoc z.B. vom Arzt in den Hausmeister verwandeln und ungesehen entkommen.

Es ist leicht einsehbar, dass für Guttenberg nur wenige dieser Rettungsmaßnahmen überhaupt in Frage gekommen wären. Einige Versuche unternahm er in seiner Rücktrittsrede. Aber eine adäquate Entschädigung, eine Wiedergutmachung für diesen Fehltritt dürfte sich schwer finden lassen.

Die Diplomarbeit von Sonja Veelen erscheint im Herbst in überarbeiteter Form als Buch im Tectum-Verlag.