Vom Grobschlächtigen zum Schönen

Schichtwechsel an der Kunstakademie Düsseldorf

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"Ich bin Maler", sagt Markus Lüpertz und errichtete eine 18 Meter hohe Skulptur - den Herkules auf dem Turm der Zeche Nordstern in Gelsenkirchen. Von den ersten Modellen an benutzte er traditionelle Werkstoffe und Werkzeuge. Als Ex-Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie sagt er: "Und für diese Fähigkeit, Welt anzuhalten, war mir die Akademie ein Instrument." Er meinte damit vor allem, den Computer aus der Akademie herauszuhalten.

Herkules - Bozzetti, (c) Markus Lüpertz, Courtesy Galerie Michael Werner, Märkisch Wilmersdorf, Köln und New York. Foto: (c) Maxim Pouska

"Ich bin Bildhauer", sagt Anthony Cragg und seine Werke werden derzeit weltweit ausgestellt - vom Louvre in Paris bis zum Museum Küppersmühle in Duisburg. Er nutzt für seine heutigen Skulpturen traditionelle Werkzeuge und Materialien: Ton, Gips und Bronze sowie ebenso selbstverständlich die modernsten Techniken und Werkstoffe des Computerzeitalters. Als neuer Rektor der Kunstakademie Düsseldorf spricht er davon, dass den Studenten alle Freiheit und Zeit zu geben ist, sich künstlerisch zu entwickeln. Er sagte: "Unserer Kunstakademie ist nur die Kunst wichtig. Wie und mit welchem Werkzeug das gemacht wird, kann uns relativ egal sein. Seien Sie versichert, dass wir in der Zukunft alle möglichen Techniken, die es gibt und einige, die es noch nicht gibt, einsetzen werden, um unserem Dasein und unserer Sicht der Realität Ausdruck zu geben."

Siegfried Gohr, Professor an der Kunstakademie Düsseldorf und Kurator der Retroperspektive von Cragg in der Küppersmühle sagte, das die Studenten an der Akademie natürlich seit langem Computer nutzen, auch wenn ihr Ex-Rektor ein Gegner aller modernen Werkzeuge, was der Computer ja nur ist, war und sein wird. Nicht nur die Studenten, sondern auch Professoren, wie beispielsweise Jörg Immendorff, ab circa 2000, gebrauchten das neue Werkzeug. Behindert durch seine Krankheit benötigte Immendorff die Hilfe von Assistenten, sowohl für die Arbeiten mit dem Computer wie auch zum Malen.

Als eine Anekdote aus der Frühzeit der Ars Electronica kann heute die Einladung von Attersee und seine Freunde zur Ars Electronica 1986 betrachtet werden. Peter Weibel war in dem Jahr als Berater für die Programmgestaltung mitverantwortlich. Herbert W. Franke erzählte, dass er nie verstanden hat, wieso damals die "Feinde der Computerkunst" eingeladen wurden. Sie hätten ja nur auf den Computer geschimpft und über die Künstler gelästert, sagte er weiter. Simon Biggs schrieb in seiner Kritik der Ars Electronica 1986, er vermutet, dass Attersee nur eingeladen wurde, weil er ein berühmter Künstler der Stadt Linz ist. Über die Veranstaltung von Attersee und seinen Freunden, zu denen unter anderen Markus Lüpertz und A. R. Penck gehörten, hatte er keine gute Meinung. Sein Fazit war: Wenn das alles sei, was die da als Alternative anzubieten haben, dann bring on the machines.

Die Retroperspektive von Cragg mit dem Titel "Anthony Cragg - Dinge im Kopf" und die Errichtung der Skulptur "Herkules" von Lüpertz demonstrieren nicht nur einen Wechsel der Personen an der Kunstakademie Düsseldorf und der von ihnen eingesetzten Werkzeuge und verwendeten Materialien. Demonstriert wird ebenfalls der Wechsel vom Grobschlächtigen zum Schönen. Wobei beide Formen weiterhin ihre Berechtigung haben, wie auch jedes verwendetet Werkzeug. Lüpertz sieht sich in der Tradition der Kunst, von den schönen griechischen Statuen des Altertums, über die Statue des "Davids" von Michelangelo und den reduzierten Figuren von Giacometti bis hin zu seinem grobschlächtigen "Herkules". Der "Herkules" von Lüpertz ist kein Adonis oder David. Die Bergleute und Arbeiter des Ruhrgebietes sind halt keine Schönlinge und ihre Aufgabe das Ruhrgebiet umzugestalten ist eine Herkulesarbeit, wie Lüpertz sagte.

Herkules - Bozzetti, Detail rechte Hand, (c) Markus Lüpertz, Courtesy Galerie Michael Werner, Märkisch Wilmersdorf, Köln & New York. Foto: (c) Maxim Pouska

Wie Vexierbilder sind seit einigen Jahren die neuen Skulpturen von Cragg. Fast alle haben eine perfekte Oberfläche und entsprechen einem menschlichen Wunsch nach Schönheit, trotzdem sie sehr bizarr sind und ausgesprochen raffinierte Formen haben. Seit dem Start seiner Serie, Rational Beings, circa 1998, finden sich immer wieder Gesichtsprofile in den Skulpturen. Wie viel Profile kann man entdecken - die Frage beim Vexierbild, was sieht man wirklich? Das zu erkennen hängt bei den Skulpturen von Cragg von wechselnden Standpunkten ab, aber ebenfalls von der Augenhöhe. Bei der Vernissage in der Küppersmühle konnte man immer wieder Besucher beobachten - nicht die, die nur kamen, um gesehen zu werden, die in die Knie gingen oder den Hals reckten, beim Versuch alle Gesichtsprofile einer Skulptur zu entdecken oder das Innere einer Figur zu erkunden.

Ein Beispiel dafür ist die Skulptur "Mental Landscape", bei der es auch noch jede Menge Ohren zu entdecken gab. An ihr kann man die Struktur wie Höhenlinien einer Geländeform ablesen - je nach Standpunkt und Fantasie. Genauso gut kann man ein Fabelwesen entdecken, dessen Schuppenpanzer eine eigenwillige Topologie hat. Der Versuch an dieser Skulptur alle Profile von Gesichtern zu entdecken braucht Zeit und man ist nicht sicher, alle entdeckt zu haben. Man kann spekulieren, ob hier bereits ein Computer im Einsatz war, aber man spekuliert falsch - kein Computer hatte seine Nullen und Einsen im Prozess einsetzen können. Die Skulptur wurde in traditioneller Art und Weise geschaffen.

Damit zu der Frage: "Wie macht er das nur?" Oder wie er während der Vernissage von einem Besucher spaßeshalber gefragt wurde: "Welche Mittelchen nehmen Sie?"

Seine Antwort steht im Katalog der Ausstellung "Anthony Cragg, Dinge im Kopf - Things on the Mind", wo er in seinem Text schrieb: "Emotionen sind Auslöser für Bewegung, und rationelles Denken ist keineswegs der Gegensatz von Emotionen, sondern ein Hilfsmittel und dient uns für das Erreichen der Ziele, die von unseren Gefühlen vorgegeben werden." Seine "Mittelchen" sind heute, neben seiner Fantasie - den Dingen im Kopf, der Zeichenstift auf dem Papier, Hard- und Software des Computerzeitalters und meisterhafte Handwerksarbeit. Er sagt in den veröffentlichten Interviews nichts Genaues über seine heutige Arbeitsweise mit dem Computer. Die Frage, wie er es macht, stellt sich insbesondere bei den Skulpturen, bei denen man vermuten kann, dass der Computer eines der Werkzeuge des Schaffungsprozesses war. Wobei nie sicher ist, ob überhaupt ein Computer eingesetzt wurde. Bei den Skulpturen "Mental Landscape",2007, und "Caugth Dreaming", 2006, wird dies zwar spekuliert, aber bei ihrem Schaffungsprozess war kein Computer als Werkzeug beteiligt, betont Cragg.

Auf die Frage von Walter Smerling, im Interview für den Katalog: "Benutzt du für deine Arbeit auch den Computer?" antwortet er: "Ja, als Werkzeug." Danach kommen Sätze, die den Einsatz des Computers abwiegeln, so als müsse er einer skeptischen Kunstgemeinde heute immer noch erklären, dass nicht der Computer die Entscheidung trifft, wie die Skulpturen aussehen werden, sondern er als Künstler der Chef ist. "Solange man den Computer nicht für Entscheidungen nutzt, ist das wunderbar. Das ist für mich der Schlüssel." sagte er zu Smerling. Cragg hat bereits in vielen Interviews darüber gesprochen, warum es für ihn selbstverständlich und legitim ist: "Das jeweils bestmögliche Werkzeug einzusetzen, um meine Arbeit zu verrichten." Sehr ausführlich geht er in dem Interview mit Jon Wood auf das Thema ein, das in Schweden stattfand und für die Ausstellung "familiæ" im Neuen Museum Nürnberg, 2005, geführt wurde. (Deutsch - Englisch)

Mein subjektiver Eindruck ist: Cragg versucht einem speziellen Kritikerkreis und Kunstpublikum nahe zu bringen, dass der Computer doch keine teuflische Versuchung ist, sondern nur ein Werkzeug. Das wurde von Kritikern, Künstlern, Kuratoren und etc. in der Frühzeit des Einsatzes von Computern in diversen Kunstbereichen dem Publikum eingeredet. Heute glauben und predigen manche Fachleute, wie Lüpertz, immer noch, dass Computertechnologie Teufelszeug sei - Weihwasser hilft aber nicht gegen den Computer.

Ein Beispiel der unterschiedlichen Betrachtungsweise in Amerika und Europa ist die Besprechungen der derzeitigen Ausstellungen von Cragg im Louvre und der Küppersmühle von Werner Spies in der Frankfurter Allgemeine Zeitung und der Artikel von Donald Kuspit über die Ausstellung in der Galerie Marian Goodman, New York, NY, 2003/2004, im Magazin Artforum International, März 2004.

Unter dem Titel "Der Kompost ist organisiert" schrieb Spies in gewohnter brillanter Manier über die Ausstellung in der Küppersmühle und im Louvre Lobenswertes. Dabei ist aber der Teil eines Satzes: "... der häufig motorischen Wiederholung eines Motivs ...", eine verstecke Spitze gegen den Einsatz des "Motors" Computer, auch wenn er dann fortfährt: "... neue Formkombinationen entstehen, deren Daseinsberechtigung der Künstler anschließend in seinen Skulpturen verifiziert."

Donald Kuspit vergleicht in seiner Besprechung die Skulpturen von Tony Cragg mit den Bauten von Frank Gehry, als er schrieb: "Zwar gibt es eine eigentümlich biomorphe Freiheit und expressionistische Energie in Cragg's Skulpturen, viele von ihnen sehen aus, als seien sie sorgfältig mit dem Computer gezeichnet - wie Frank Gehrys eigenen biomorphen/expressionistischen Kurven. Der Computer hat es möglich gemacht, ‚schwierige' neue Formen in der Architektur zu realisieren, warum als nicht auch in der Bildhauerei?"

Kuspit hat auch keine Probleme vom Computer zu schreiben, was Spies mit den Worten "motorischen Wiederholung" vermeidet, wenn er weiterschreibt: "Ob Cragg einen Computer benutzt hat oder nicht, man fragt sich, ist hier nicht eine ähnliche assoziative Logik am Werk: Die stimmungsvolle Nervosität seiner Skulpturen mit ihren plötzlich auftauchenden Profilen deutet das an." Cragg sagte im Gespräch, dass er damals, 2003, noch keinen Computer einsetzte.

Warum beschreibt heute der Rektor der Kunstakademie Düsseldorf und weltberühmter Bildhauer Anthony Cragg den Einsatz des Computers in der Kunst so ausführlich? In der Videokunst, Musik, Film und Fotografie, selbst in der Malerei oder bei Glasfenster für Dome wird der Computer wie selbstverständlich eingesetzt - zwar nicht von allen aber sehr vielen. Warum also versucht Cragg den Computer seinen Kunden nahezubringen, damit die akzeptieren, dass der zu der Reihe seiner Werkzeuge zählt? Eine Antwort darauf wird er eines Tages geben oder auch nicht.

Nach der Vernissage in der Küppersmühle zogen rund 140 VIPs zur Feier in ein nahe gelegenes Restaurant. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass von diesen Gästen sich so gut wie niemand darüber wunderte oder sich dafür interessierte, dass Cragg Computer für seine Arbeit einsetzt. Warum sollten sich auch Banker, der Hauptsponsor war die National-Bank AG, Essen und einer der Festredner war Dr. Thomas A. Lange, Vorsitzenden des Vorstandes, dazu Fragen stellen? Sie benutzen ja ebenfalls für alle Geschäfte und Spekulationen modernste High End Computer und Software. Einen Vorteil haben die Skulpturen von Cragg, da sie eine geschätzte Lebenserwartung von 1.000 Jahren haben - sie krachen nicht so oft zusammen, wie die Börsenspekulationen und Kapitalmärkte der Welt.

Die Antworten und Erklärungen von Cragg in den Interviews erinnern an Texte von Herbert W. Franke, der von Anfang der Sechziger des 20. Jahrhunderts vehement und kämpferisch dafür eintrat, dass Computer legitime Werkzeuge für Künstler und Kreative sind, wie auch für Wissenschaftler. Franke erwähnte immer wieder C. P. Snow und seine Rede über The Two Cultures und das Buch "The Two Cultures and the Scientific Revolution" in diesem Zusammenhang.

Eine der typischen Attacken von früher wurde in dem Satz: "Zeigt uns doch eure Meisterwerke - die Computerkunst hat doch keine Meisterwerke." formuliert. Indirekt antwortet Cragg im Interview mit Wood darauf, wenn er sagt: "Im Bereich der Skulptur ist es ja schwieriger, Dinge dreidimensional zu repräsentieren, und es hat 150 Jahre gedauert, ein gleichwertiges Mittel (zur Fotografie) zur Schaffung einer dreidimensionalen Form oder deren leichterer Herstellung zur Verfügung zu haben. Es ist so neu, dass man darüber nicht in einer von Erinnerungen geleiteten Perspektive reden kann, weil wir die Sache, die wir betrachten, noch nicht lange genug nutzen." Seine direkte Antwort sind seine Meisterwerke, die nun in Museen, Sammlungen und Städten stehen. Die Skulptur "Versus", 2010, (Schichtholz)die für ein Jahr im Louvre unter der Pyramide von Ieoh Ming Pei die Besucher begrüßt, ist als Meisterwerk Beweis genug, dass Computer und Software - als Werkzeuge in der gesamten Reihe der eingesetzten Werkzeuge - Künstler unterstützen, ihre Emotionen und Ideen umzusetzen. OK, das ist in vielen Kunstbereichen heute ein "alter Hut", und wird von vielen Künstlern nicht mehr infrage gestellt. Besonders ist das seit einigen Jahren in der Fotografie zu beobachten, wo mancher Fotograf inzwischen damit kokettiert, dass er oder sie Computer zur Herstellung der Fotografien einsetzt - was in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts noch verpönt war.

Der von Cragg angesprochene Zeitfaktor: "dass man darüber nicht in einer von Erinnerungen geleiteten Perspektive reden kann" und sein Satz: "Mathematik und rationale Denkprozesse gehören heute zu den wichtigsten Instrumenten bei der Suche nach Einsichten in die uns umgebende Welt." erinnern an den Beginn der Renaissance. Giorgio Vasari schrieb in seinem Buch Le Vite de' più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani - Lives of the Most Excellent Italian Painters, Sculptors, and Architects, dass es vom Beginn der Renaissance bis zu ihrem Höhepunkt rund 300 Jahre dauerte. "Time will tell", ist dazu ein passendes Sprichwort der Engländer.

Wie Vasari schrieb, so wird auch in der Zukunft von den "sehr exzellenten Architekten, Malern, Bildhauern" sowie Filmern, Fotografen und Musikern gesprochen und geschrieben - ohne jedem automatisch das Etikett "Computerkünstler" anzuheften, wenn zum kreativen Schaffungsprozess ebenfalls ein Computer genutzt wird.

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