Merkel hält Kritik der Opposition an Vorgehen beim Kernkraft-Moratorium für "absolut respektlos"

Erst jetzt ist der Kanzlerin und Physikerin aufgefallen, dass auch unverhergesehene Ereignisse eintreten können

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In einer Regierungserklärung versuchte Angela Merkel, ihren radikalen Wechsel in der Atompolitik zu begründen und das verfassungsrechtliche Bedenken am Kernkraft-Moratorium zu zerstreuen. Viel Substanz hatte Merkel in ihrer mehr als halbstündigen Rede jedoch nicht zu bieten. Angeblich besteht seit dem Unglück in Japan eine neue Situation, so die dürftige Erklärung der Kanzlerin. Harsch ging Merkel auch die Opposition an. Diese ist ihr zufolge Schuld an Verzögerungen beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Auch Kritik an der fehlenden Beteiligung des Parlaments wollte sie nicht gelten lassen. Die schwarz-gelbe Regierungskoalition stimmte mit ihrer Bundestagsmehrheit für den entsprechenden Entschließungsantrag, mit dem das Moratorium befürwortet wird. "Die Unionsfraktion steht geschlossen hinter dem, was die Kanzlerin vorgetragen hat“, sagte Volker Kauder. Auch die Einschätzung, Deutschland habe die sichersten AKWs, teile man. Aber es gebe eben ein Restrisiko.

Mit einer Mischung aus Beruhigung und offensiv zur Schau gestellten Aktionismus versuchte Merkel im Bundestag, vor den Landtagswahlen die Bundesbürger zu beruhigen. Mit Schilderungen einer Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes, die sich in Japan ereignet habe, leitete Merkel ihre mit Spannung erwartete Regierungserklärung ein, um dann zu zeigen: ihre Regierung ist handlungsfähig.

Weder die Menschen noch die Politik könnten angesichts der Katastrophe einfach zur Tagesordnung übergehen, und die Bundesregierung habe dies auch nicht getan, erklärte die Kanzlerin - um sofort zu beschwichtigen. Derartige Erdbeben und Flutwellen sind in Deutschland ohnehin nicht möglich, zudem sei mit Beeinträchtigungen durch die nukleare Katastrophe in Deutschland nicht zu rechnen. Beides ist, zumindest in dieser Absolutheit, Augenwischerei. Ob ein Erdbeben der Stärke 9 in Deutschland möglich ist, ist gar nicht die Frage, ein Erdbeben, für das ein deutscher Reaktor nicht ausgelegt ist, jedoch sehr wohl. Unvorhergesehene Ereignisse können ohnehin nicht ausgeschlossen werden, da hilft auch scharfes Nachdenken während des Moratoriums nicht.

Richtig ist zwar auch, dass die radioaktive Wolke wohl nicht groß genug ist, um auch noch in Deutschland relevante Auswirkungen auf die Strahlenbelastung zu zeitigen. Doch der weltweite Handel könnte durchaus zu einem Risiko auch für Deutschland werden. Noch kann beispielsweise nicht gesagt werden, welche landwirtschaftlichen Flächen oder Fischfanggebiete von dem Reaktorunglück betroffen sein werden. Klar ist jedoch: der internationale Handel, der auch mit Lebensmitteln stattfindet, könnte auch belastete Produkte nach Deutschland bringen. In den nächsten Wochen dürfte es noch nicht zur Einfuhr belasteter Ware kommen, mittelfristig wird das Problem jedoch akut - nur der Umfang kann noch schwer benannt werden.

Zu den weiteren Beruhigungsfloskeln Merkels gehört das Gerede von den angeblich sicheren deutschen Atomkraftwerken. "Sie gehören zu den weltweit sichersten", behauptet die Kanzlerin. Deshalb lehne sie es auch ab, diese abzuschalten, nur um dann Strom aus Kernkraftwerken im Ausland zu beziehen. Die größte Industrienation Europas, die Deutschland sei, könne nicht von jetzt auf gleich auf Kernkraft verzichten, wiederholt Merkel das Mantra ihres übereilt außer Kraft gesetzten Energiekonzeptes. Ein "Ausstieg mit Augenmaß" sei das, und immerhin gebe es ja auch einen parteiübergreifenden Konsens, keine Kernkraftwerke mehr zu bauen, so Merkel. Wo Merkel von Konsens spricht, meint sie jedoch nur den kleinsten gemeinsamen Nenner. Beim Zuhörer soll aber offenbar die Botschaft ankommen, dass die Unterschiede in der Atompolitik so groß gar nicht seien. Kanzlerin Merkel versucht die Union grün erstrahlen zu lassen, um auch Atomkritiker in den kommenden Wahlen auf ihre Seite zu ziehen.

Diese Argumentationskette setzt sich fort. Den Verpflichtungen zum Klimaschutz müsse Deutschland weiterhin gerecht werden, so Merkel in ihrer Erklärung weiter. "Es geht nicht an, dass wir an einem Tag den Klimawandel als eines der größten Probleme der Menschheit klassifizieren, und an einem anderen Tag so tun, als ob das alles nicht gilt", so die Kanzlerin wörtlich. Dabei halten die Expertengremien der Bundesregierung den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke für den Umstieg auf erneuerbare Energien für problematisch, verhindern die unflexiblen Kraftwerke doch das Wachstum der regenerativen Energien.

Gar keine Berücksichtigung in der Argumentation der Regierung finden die Folgen des Uranbergbaus. Selbst der VDI schreibt in seinem Nachrichtenmagazin, der Uranabbau gefährde die Bevölkerung Afrikas und schildert die Verantwortungslosigkeit der Konzerne. Diese schieben die hohe Sterblichkeit der Menschen in den betroffenen Gebieten nicht auf die Strahlung, sondern auf den schlechten Lebensstil der Bevölkerung, sowie auf AIDS. Ein Aspekt, den übrigens auch die Oppositionsparteien viel zu oft in der Diskussion um die angeblich saubere Atomenergie vergessen.

Merkel versucht indes, den Untergang der Industrie und der Arbeitsplätze in Deutschland an die Wand zu malen, sollten zu viele Atomkraftwerke vom Netz gehen. Energie müsse in Deutschland bezahlbar bleiben, so die Kanzlerin. Zudem dürfe es nicht sein, dass Arbeitsplätze in Länder abwanderten, in denen die Kernkraftwerke möglicherweise sogar unsicherer seien als hierzulande.

Emotionale Drohungen mit möglicher Arbeitslosigkeit sollen Fakten ersetzen. Zum Beispiel über die Entstehung des Strompreises an der Strombörse. Dort wird nicht mit einer Mischkalkulation aus allen derzeit am Netz befindlichen Kraftwerken gerechnet, vielmehr bestimmt dort das teuerste Kraftwerk den Preis. Der angeblich so billige Atomstrom hat also allenfalls ein sehr überschaubares Potential, preisdämpfend zu wirken. Zudem geben die Konzerne sinkende Börsenpreise ohnehin nicht unbedingt an die Verbraucher weiter, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Gefahr für die Industrie ist also nicht in Sicht, zumal auch von einer Versorgungslücke keine Rede sein kann.

"Unfassbare Ereignisse"

Schließlich kommt Merkel zur Begründung des Moratoriums. Die "unfassbaren Ereignisse" in Japan hätten gezeigt, dass auch Undenkbares passieren könne, so die Bundeskanzlerin. Im Zweifel müsse sie sich daher für die Sicherheit entscheiden - und eben die Verlängerung der Laufzeiten durch ein Moratorium aussetzen. Doch ist dies ein ausreichender Grund, ein rechtskräftiges Gesetz vorübergehend außer Kraft zu setzen, ohne das Parlament darüber abstimmen zu lassen? Dass es zu nicht vorhersehbaren Ereignissen kommen könnte, ist keine neue Erkenntnis. Immer wieder kommen gravierende Ereignisse vor, mit denen die Politik nicht rechnen kann. Es handelt sich bei der nuklearen Katastrophe in Japan also keinesfalls um ein Ereignis, das als Rechtfertigung für ein notstandsähnliches Agieren der Regierung am Bundestag vorbei rechtfertigen könnte.

Nicht anders als eine Verhöhnung des Parlaments durch die Kanzlerin selbst ist es, wenn Merkel ihre Regierungserklärung benutzt, um dankend ein Angebot des SPD-Politikers Thomas Oppermann abzulehnen. Er hatte vorgeschlagen, ein gemeinsames Abschaltgesetz zu verabschieden, um das Herunterfahren der Kernkraftwerke auch rechtlich abzusichern. Das Gesetz sollte jedoch auch eine endgültige Stilllegung der sieben ältesten Kernkraftwerke enthalten. Doch Merkel begründete ihre Ablehnung nicht mit zu weitgehenden Forderungen im Gesetz, sondern damit, dass man auch "im beschriebenen Sinne handeln könne, und das umgehend". Schnelles Handeln im fiktiven Notstand ist der Regierungschefin wichtiger als verfassungsmäßig korrekte Regierungstätigkeit. Dabei ist der einzige Notstand in den drohenden Landtagswahlen zu sehen.

Im Bundestag sorgte Merkels Rhetorik von der angeblich neuen Lage jedoch vor allem für Verärgerung bei der Opposition - und das wiederum für Unmut bei der Kanzlerin. "Jetzt sagen Sie doch mal auch, wir haben eine neue Lage. Das kann man doch erwarten!", rief sie ihren Kritikern zu.

Warum betrifft die "neue Lage" nur sieben alte AKWs?

Auch die Frage, warum die "neue Lage" bei den sieben ältesten Kernkraftwerken eine sofortige Abschaltung nötig macht, bei den jüngeren jedoch nicht, versucht sich die Kanzlerin mit einer Antwort. "Da sich gerade bei älteren Anlagen die Frage nach den in der Auslegung berücksichtigten Szenarien in besonderer Weise stellen kann, haben sich die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Bundesländer mit Kernkraftwerken dazu entschlossen, diese Anlagen für den Zeitraum der Überprüfung vom Netz zu nehmen", so Merkel.

Warum sollen aber unvorhergesehene Bedrohungen lediglich die älteren Kernkraftwerke treffen, die jüngeren aber verschonen? Der Argumentation der Regierung fehlt jedwede Logik. Zumal bereits im Jahr 2002 eine Studie der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) zu dem Schluss kam, dass keines der deutschen Atomkraftwerke einem Flugzeugabsturz stand halten würde (Super-GAU bei Terroranschlag?). Es braucht nicht einmal ein unvorhergesehenes Ereignis, um in den Atomkraftwerken der Bundesrepublik eine Katastrophe auszulösen. Ein bereits erforschtes Szenario wäre vollkommen ausreichend. Die Begründung, warum neuere Kernkraftwerke weiterlaufen können, ältere jedoch nicht, sie ist Makulatur.

Eine rechtlich saubere Politik der Regierung scheint derzeit in weiter Ferne, von einer klaren Linie ist schwarz-gelb ohnehin weit entfernt. Das ist bemerkenswert, vor allem, weil sich die Union darin gefällt, der SPD im Wahlkampf politische Schlingerei vorzuwerfen, und dieser billigen Polemik sogar eine eigene Webseite widmet. Kritik der Opposition an dem bedenklichen Vorgehen der Regierung ist für Merkel offenbar nicht legitim. "Ihr Verhalten ist, wenn ich das in den letzten Tagen gesehen habe, von Niveaulosigkeit nicht zu überbieten", so die Kanzlerin.

Selbst in einer Umfrage, die YouGov für die Bild durchgeführt hat, ist die Skepsis gegen über der Bundesregierung außerordentlich hoch. 81 Prozent halten den "Kurswechsel der Bundesregierung bei der Atompolitik" für "nicht glaubwürdig", 70 Prozent begrüßen freilich die Entscheidung, die alten Meiler wenigstens drei Monate abzuschalten.