Trügerische Realität und Super-GAU

Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl als Spielfilm: der Tanz in den Untergang "An einem Samstag"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Je näher man 1986 dem brennenden Atomkraftwerk in Tschernobyl kam, desto krasser wurde der Widerspruch zwischen dem, was zu sehen und dem was (nicht) zu hören war. Aleksandr Mindadzes Spielfilm An einem Samstag führt dies deutlich vor, wenn er zeigt, wie die Menschen in der unmittelbaren Umgebung der Katastrophe sehenden Auges in den möglichen Strahlentod tanzen.

Bilder: NFP

Nach vorsichtigen Schätzungen soll die Katastrophe, die sich am 26. April 1986 im Blick 4 des Atomkraftwerks von Tschernobyl zugetragen hat, 3000 Menschenleben gekostet haben. Ein Grund dafür war vor allem die Informationspolitik der damaligen Sowjet-Regierung: „Wenn wir die Öffentlichkeit informieren, sollten wir sagen, dass das Kernkraftwerk gerade renoviert wurde, damit kein schlechtes Licht auf unsere Ausrüstung geworfen wird“, empfahl der damalige Generalsekretär des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow.

Die Wahrheit über das, was dort wirklich vorgefallen war (nämlich der Super-GAU), sickerte deshalb nicht nur sehr spärlich und mit beachtlicher Verzögerung in ausländische Medien; sie erreichte vor allem aber diejenigen nicht oder viel zu spät, die sich im direkten Einflussbereich des havarierten Atommeilers aufhielten: einerseits diejenigen, die mit den Lösch-, Aufräum- und Versiegelungsarbeiten beschäftigt waren; andererseits die Mitarbeiter des Kraftwerks und die Einwohner der nahegelegenen Stadt Prypjat. Von letzteren erzählt Aleksandr Mindadzes Film „An einem Samstag“.

Es ist doch gar nichts passiert!

Valerij (Anton Shagin) ist Techniker im Kraftwerk. Wir sehen ihn zu Beginn des Films atemlos auf den orange leuchtenden Gebäudekomplex zulaufen. Dort sind Sirenen zu hören und Feuerwehrfahrzeuge rasen hin und her. Als Valerij das Kraftwerk erreicht, erfährt er, dass lediglich mal wieder ein Kühlwasser-Behälter explodiert sei. Beruhigen lässt er sich davon dennoch nicht und hetzt weiter durch die Gänge des Verwaltungsgebäudes. Er gelangt an einen Konferenzsaal, wo er das Gespräch zwischen den Kraftwerksleitern und einem Politiker belauscht, die davon sprechen, dass es zum äußersten Notfall gekommen sei, darüber aber nichts bekannt werden dürfte – insbesondere, weil kurz vor dem 1. Mai, dem „Tag der Arbeit“, sowieso niemand mehr im Kraftwerk ist, sondern alle in Prypjat die freien Tage genießen.

Mit diesem Wissen ausgestattet hetzt Valerij nach Prypjat um seine Verlobte Vera (Svetlana Smirnova), die ebenfalls für das Kraftwerk arbeitet, aus ihrem Wohnheim abzuholen und mit ihr den vielleicht letzten Zug, der die Stadt noch verlässt, zu erreichen. Doch Vera hat anderes im Sinn: Sie will zunächst neue Schuhe kaufen, danach muss sie noch ein Versprechen einlösen und zusammen mit ihrer Band für eine dreifache Hochzeitsfeier aufspielen – nur dann kann sie auch den verpfändeten Reisepass wieder bekommen, den der Kneipenwirt, der die Feier ausrichtet, zurückhält, bis die Band ihre Schulden bei ihm abgespielt hat.

Notgedrungen lässt Valerij sich darauf ein und während immer mehr Zeit verstreicht, vergisst auch er, was ihn eigentlich zur Eile angetrieben hat. Sogar für einen wegen Betrunkenheit ausgefallenen Schlagzeuger springt er schließlich ein und versöhnt sich mit seinen ehemaligen Band-Kollegen.

Der Tag danach

Die Normalität, von der „An einem Samstag“ erzählt, ist schon fast brutal trügerisch. Der Film interessiert sich scheinbar gar nicht für die katastrophalen Geschehnisse, sondern lediglich für das Treiben rund um die Feier in Prypjat und insbesondere für die zwischenmenschlichen Konflikte seiner Protagonisten. Indem er – oft mit Handkamera gefilmt – fast nur Augen für diese (Schein-)Normalität hat, wirkt er mit dem Wissen „25 Jahre nach Tschernobyl“ beinahe schon so, als würde dem Betrachter der Kopf mit roher Gewalt vom Schreckensszenario weg und zur unbekümmerten Sorglosigkeit der ahnungslosen Anwohner hin gedreht. In dieser forcierten Blickrichtung offenbart sich jedoch die Genialität des filmischen Vorhabens.

Denn beim „Drehen“ (des Filmes, wie des Kopfes), gerät immer wieder das rot-gelb glühende Kraftwerksgebäude jenseits des Prypjat-Flusses ins Blickfeld – wie eine tödliche Warnung am Horizont, die man eigentlich gar nicht ignorieren kann. Und in der Tat schafft es auch Valerij zu keiner Zeit wirklich, seine Angst und sein Fluchtvorhaben ganz zu vergessen. Es äußert sich nur nicht mehr im konkreten Handeln, sondern in seiner sich immer weiter steigernden, unglaublichen Aggressivität (die er vor allem am Schlagzeug zum Ausdruck bringt) und in seinen gehetzten Blicken – etwa auf den schwangeren Bauch der Ehefrau eines der Hochzeitspaare, für die in dieser Nacht gespielt wird.

Schließlich entlädt sich seine Anspannung in manifeste Gewalt – Prügeleien mit den Band-Kollegen aus nichtigem Anlass. Mit ihnen treibt er am Ende auf einem Boot über den Fluss, wo ihm nach Trunkenheit und Erschöpfung seine Verdrängung mit einem Augenaufschlag noch einmal so rigoros vor Augen geführt wird, dass man auch als Zuschauer es fast nur als einen Schlag ins Gesicht begreifen kann.

Es ist trotzdem da!

Das tückische an der Radioaktivität ist, dass der Mensch keinerlei Sinneswahrnehmung für sie besitzt. Das ist es letztlich, was „An einem Samstag“ deutlich zu machen versucht. Im Moment intensivster Bestrahlung fühlt man sich nicht verstrahlt. Die Filmgeschichte hat diese Unsichtbarkeit und Unfühlbarkeit immer wieder zu einem starken Schreckensszenario ausgebaut.

Man denke an jene Sequenz (ab 1:30 Min.) aus dem Film „The Day After“, in der der von Steve Guttenberg gespielte Soldat der hysterisch aus dem elterlichen Bunker fliehenden jungen Frau hinterherläuft, die zwischen den vertrockneten und aufgedunsenen Tierkadavern schreiend feststellt, dass ihre Welt untergegangen ist, während Guttenberg ihr klarzumachen versucht, dass sie sich in tödlicher Gefahr befinden. Ähnliche Szenen hat vor allem der postapokalyptische Atomkriegsfilm immer wieder gezeigt.

Und genau hierin findet auch eine Parallele dieser Filme zu Aleksandr Mindadzes „An einem Samstag“. Denn im Prinzip lässt sein Film die Befürchtungen des Kalten Krieges, den langsamen Strahlentod zu sterben noch einmal konkret werden. Der Dritte Weltkrieg hat sich zwar nicht ereignet, wohl aber eine Katastrophe, welche die in ihm beschworenen Folgen partiell nach sich zog. So mag Tschernobyl vielleicht gerade im Rückblick betrachtet, ein nicht unwichtiger Faktor zur Beendigung des Kalten Krieges geworden sein, weil er allen deutlich vor Augen geführt hat, dass sich die Folgen eines solchen Krieges nicht begrenzen lassen und dass schon ein einziger Super-GAU ausreicht, um die ganze Welt den Atem anhalten zu lassen. Die Ereignisse in Japans havariertem Atommeiler in Fukushima haben dies noch einmal doppelt unterstrichen.

Totentanz in der Nebelkammer

In „An einem Samstag“ wird das Filmmaterial selbst zum Indikator für die Radioaktivität – es ist es ohnehin schon immer das einzige Medium gewesen, das normalen Menschen (also solchen ohne spezielle Messinstrumente) die Strahlung vor Augen führen kann. Mindadze nutzt sein Potenzial der Sichtbarmachung jedoch auf einer abstrakteren Ebene mit Hilfe einer der stärksten und traditionsreichsten Metaphern: den Totentanz.

Was in „An einem Samstag“ als zufällige Gleichzeitigkeit (hier die drei Hochzeiten, dort der Super-GAU) auftritt, ist kulturhistorisch ein fest gefügtes Motiv: der Tanz in den Untergang. Er entstand im Hochmittelalter, zur Zeit der Pest-Epidemien in Europa und visualisierte durch den Kontrast von Feier/Tanz und Trauer/Tod die besondere Einstellung der Menschen zum scheinbar unabwendbaren Untergang.

Dieser Kontrast vermag den Horror der Unsichtbarkeit und deshalb auch Unausweichlichkeit (vor der radioaktiven Strahlung) noch stärker zu verdeutlichen als es die bloße Schwärzung von Filmmaterial oder die Inszenierung von Tod und Sterben könnte. Der Prypjater "Energetik"-Kulturpalast wird durch den Totentanz zu einer kulturellen Nebelkammer, in der die Menschen und das Unsichtbare tanzen.

„An einem Samstag“ braucht deshalb gar nicht viel mehr als dieses Motiv, um noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, in welcher Situation sich Mittel, Ost- und Nordeuropa damals befunden haben. Die meisten von uns haben nämlich trotz der Nachrichten und der Warnungen ebenfalls weiter getanzt. Das Leben musste weitergehen – auch mit Jod 131 und Caesium 137 in Luft und Boden.

Hinweisschilder auf Spielplätzen, Empfehlungen, keine Pilze oder Wild-Fleisch mehr zu sich zu nehmen, beruhigten oberflächlich – während sich die Isotope auch hierzulande in Knochen und Schilddrüsen anreicherten. Die Unsichtbarkeit der Gefahr hat auch weiterhin dazu verleitet, sie zu ignorieren – wie die immer noch beachtliche Zahl an Atomkraftwerken und die politischen Argumente, die für ihren Fortbestand bemüht werden, zeigen. Es steht zu hoffen, dass das 25-jährige, traurige Jubiläum der Tschernobyl-Katastrophe, die Geschehnisse in Fukushima und die kulturelle Aufarbeitung (zu der auch „An einem Samstag“ wesentlichen beiträgt), für eine längere Halbwertszeit der Sichtbarkeit sorgen.