Das Kreuz darf im Klassenzimmer bleiben

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit dem Kreuz kein Problem, weil es als "passives Symbol" eigentlich keine Bedeutung mehr habe

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Nach fast zehn Jahren beendet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg mit einer großen Mehrheit von 15 gegen 2 Stimmen den Streit um die Trennung von Staat und Kirche im Schulzimmer - zumindest dem ersten Anschein nach zugunsten der Kirche und der Religion. In Italien dürfen Kruzifixe in den Klassenzimmern hängen bleiben, nicht-christliche Kinder und deren Eltern müssen es dulden, dass der Gekreuzigte immer anwesend ist.

Es ist ein Schlag gegen die Aufklärung und den Säkularismus, zumal der EGMR mit seinem Urteil im Fall "Lautsi und andere gegen Italien" das erstinstanzliche Urteil von 2009 wieder aufhob. Dieses kam unter Protest der Kirchen und ihnen nahestehenden Regierungen und Parteien zum Schluss, Kruzifixe in Klassenzimmern würden die Religionsfreiheit verletzen und das Erziehungsrecht der Eltern,ihre Kinder nach ihren eigenen religiösen oder weltanschaulichen Ansichten zu erziehen, über Gebühr einschränken (In einem Regensburger Klassenzimmer wird die christlich-abendländische Kultur verteidigt). Soile Lautsi hatte in Italien 2002 geklagt, weil sie nicht einsah, warum ihre beiden Söhne unterm Kruzifix in einer staatlichen Schule sitzen sollten. Darin sah sie die staatliche Neutralität verletzt. Weil sie bei den italienischen Gerichten gescheitert ist, reichte sie 2006 eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.

Nach dem Urteil, dass Kruzifixe – und damit alle religiösen Symbole - in den Klassenzimmern nichts zu suchen haben, gab es große Empörung. Italien legte unter dem Druck des Vatikan - obgleich Berlusconi ansonsten nicht gerade ein sittsames religiöses Leben führt - Widerspruch ein. Andere Staaten, Abgeordnete und Organisationen schlossen sich an. Nun ging es um den Kampf der Kulturen, mithin um die Macht, die den christlichen Kirchen in Europa eingeräumt werden soll. Alles unter dem Zeichen, dass Europa nicht nur eine christliche Tradition hat, sondern diese auch sichtbar und in der Erziehung dominant präsentieren muss und dabei nicht nur alle anderen Religionen, sondern auch Aufklärung, Atheismus und religiöse Indifferenz, die Produkte der abendländischen Kultur, in den Hintergrund drängt.

Der EGMR zog sich letztlich billig aus der Affäre. Man könne nämlich nicht beweisen, "ob ein Kruzifix an der Wand eines Klassenzimmers einen Einfluss auf die Schüler hat, auch wenn es in erster Linie als religiöses Symbol zu betrachten ist". Nur wenn es einen solchen Einfluss hätte, würde dies die staatliche Pflicht, "das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen", verletzen. Zudem hätten die Staaten einen Spielraum, wie sie etwa die von ihnen der Religion zugemessenen Bedeutung mit dem Erziehungsrecht vereinbaren.

Man merkt den Richtern an, wie sie sich winden, um den Christlich-Konservativen das Ihre zu geben, weil sie fürchten, sonst womöglich den Zorn einer Mehrheit auf sich zu ziehen. Ganz aus der staatlichen Neutralitätspflicht können sie aber nicht aussteigen, also macht man aus dem christlichen Symbol des Kruzifixes einen Gegenstand, der halt an der Wand hängt, aber keine große oder überhaupt eine Bedeutung hat, weswegen nicht-christliche Kinder und ihre Eltern dessen Präsenz auch ertragen müssen, wenn der jeweilige Staat dies so will:

In diesem Zusammenhang stellte der Gerichtshof fest, dass die gesetzliche Regelung in Italien, die das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern vorschreibt, der Mehrheitsreligion eine dominante Sichtbarkeit in der schulischen Umgebung gibt. Der Gerichtshof war aber der Auffassung, dass dies nicht ausreicht, um von einem staatlichen Indoktrinierungsprozess zu sprechen und um einen Verstoß gegen Artikel 2 Protokoll Nr. 1 zu begründen. Der Gerichtshof verwies auf seine Rechtsprechung, nach der die Tatsache, dass einer Religion angesichts ihrer dominanten Bedeutung in der Geschichte eines Landes im Lehrplan mehr Raum gegeben wird als anderen Religionen, für sich genommen noch keine Indoktrinierung darstellt. Er hob hervor, dass ein an der Wand angebrachtes Kruzifix ein seinem Wesen nach passives Symbol ist, dessen Einfluss auf die Schüler nicht mit einem didaktischen Vortrag oder mit der Teilnahme an religiösen Aktivitäten verglichen werden kann.

Pressemitteilung des EGMR zum Urteil

Ein salomonisches Urteil also, das alles beim Alten belässt, auf das sich aber womöglich nun auch diejenigen berufen könnten, die andere "passive" religiöse oder weltanschauliche Symbole in den Klassenzimmern anbringen möchten. Für Deutschland bringt das Urteil aber keine Lösung. Denn hier hat das Bundesverfassungsgericht 1995 eigentlich das Notwendige gesagt:

Die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern überschreitet die (...) Grenze religiös-weltanschaulicher Ausrichtung der Schule. Wie bereits festgestellt, kann das Kreuz nicht seines spezifischen Bezugs auf die Glaubensinhalte des Christentums entkleidet und auf ein allgemeines Zeichen abendländischer Kulturtradition reduziert werden.

Darum mogelt man sich in deutschen Landen allerdings herum. Über das Urteil des EGMR freut sich etwa die bayerische Justizministerin Beate Merk, weil nun endlich "auch von Minderheiten Toleranz eingefordert werden" kann. Die Minderheiten dürfen nach ihrer Ansicht nun endlich die Mehrheit nicht mehr stören. Eine schöne bayerische Toleranz, der sich wohl auch die christlichen Kirchen anschließen (In einem Regensburger Klassenzimmer wird die christlich-abendländische Kultur verteidigt). Die Deutsche Bischofskonferenz ist begeistert, nachdem nun für sie Religion und Staat wieder eine Einheit sind:

Das Anbringen eines Kreuzes in einem Klassenzimmer wie auch allgemein religiöser Symbole im öffentlichen Raum ist der unaufdringliche Ausdruck des staatlichen Bekenntnisses zu seiner Identität, seinen Wurzeln und zu seinen Werten.

Und der Freiburger Staatskirchenrechtler Prof. Dr. Stefan Mückl meint, ganz im Sinne des Vatikan: "Es ist ein guter Tag für die Religionsfreiheit und die Menschenrechte insgesamt im Raum des europäischen Rechts!"

Da kann man nur noch sagen: Amen!