"Nur Gott, Syrien und Freiheit" - oder mehr?

Proteste jetzt auch in der Diktatur Baschar al-Assads

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Die Welle der Volksbegehren, die die arabischsprachigen Diktaturen erschüttert, schien vor Syrien Halt gemacht zu haben. Einziger Vorfall bislang: eine Kundgebung vom 17. Februar. Damals hatten Kleinhändler spontan protestiert, nachdem Polizisten auf einen Verkehrssünder einschlugen. Nahezu einen Monat herrschte angespannte Ruhe. Bis Mitte vergangener Woche.

„Nein zum Ausnahmezustand. Wir sind ein Volk, das die Freiheit will“, riefen erneut Hunderte (nach einigen Internetangaben gar Tausende) Demonstranten vergangenen Sonntag in der 100 Kilometer südlich von Damaskus gelegenen Stadt Daraa.

Bewohner berichteten, der Justizpalast sowie das Gebäude des Telekommunikationsunternehmen Syriatel seien in Brand gesetzt worden. Letzteres gehört Rami Makhlouf, dem wegen seiner Korruption verhassten Cousin von Präsident Baschar al-Assad. Ein Video auf Youtube will dies bezeugen, bezeichnet jedoch das Gebäude, aus dem Rauch aufsteigt, nicht näher.

Am gestrigen Sonntag sollen neuerliche Übergriffe auf die Protestierenden erfolgt sein, wie Aufnahmen von Verwundeten, die in der Omari-Moschee versorgt werden, nahelegen.

Regierungsdelegation sucht zu beschwichtigen

Anzeichen, die darauf schließen lassen, dass sich die Bewohner Daraas keineswegs durch das zeitgleiche Eintreffen einer ranghohen Regierungsdelegation aus Damaskus besänftigen ließen. Diese war gekommen, um den Familien der zwei Tage zuvor getöteten Demonstranten ihr Beileid auszusprechen. Je nach Quelle sollen es vier bis sechs junge Männer gewesen sein.

Die Aufklärung ihrer Todesumstände und die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen wurde ebenso zugesichert wie die sofortige Haftentlassung jener rund 15 Kinder, die Freiheitsslogans an Wände gesprüht hatten. Auch wurde der Gouverneur von Daraa des Amtes enthoben, aufgrund seines brutalen Vorgehens bei den Freitagsprotesten, infolge derer Daraa abgeriegelt wurde. Es liegen keine Meldungen vor, ob die Maßnahme noch besteht, allerdings ist damit zu rechnen, da für die kommenden Tage weitere Proteste erwartet werden.

Die angespannte Ruhe in Syrien gerät seit dem 15. März ins Wanken. Studenten hatten sich an diesem Tag in einer offiziell nicht angekündigten Demonstration in Damaskus versammelt. Konkrete Forderungen stellten sie nicht, vielmehr lautete ihr verhaltener Ruf: "Nur Gott, Syrien und Freiheit".

Proteste landesweit

Die Versammlung wurde ebenso rasch zerschlagen wie die am darauffolgenden Tag. Hier war das Vorgehen der Staatsgewalt aber ungleich brutaler. Vor dem Innenministerium hatte sich die recht isolierte syrische Opposition versammelt, um ihre Solidaität mit den Familien politisch Inhaftierter zu bekunden.

Augenzeugen berichten, dass es schwer gewesen sei, die exakte Zahl der Demonstranten auszumachen, da mindestens ebensoviele Schlägertrupps in Straßenkleidung gekommen waren, um die Menge innerhalb kürzester Zeit auseinanderzutreiben. 38 Menschen wurden verhaftet, darunter der 69-jähtrige Philosophieprofessor Tayebb Tizzini, der mit dem Kopf angeblich mehrfach gegen eine Wand geschlagenwurde.

Auch in Aleppo, Deir Ezzor und Baniyas wurde seither protestiert. Hier wie anderenorts beschränken sich die Rufe auf den nach „Syrien und Freiheit“. Bei den Sonntagsdemonstrationen in Daraa hingegen ertönten auch erstmals der vom Kairoer Tahrir-Pltz bekannte Slogan, "Das Volk wünscht den Sturz des Regimes".

Extreme Armut, eine stabile Mittelklasse und die Konfessionskarte

Daraa ist die Hauptstadt der Hauran-Provinz. Einst mit blühender Landwirtschaft gesegnet, leidet die Region wie viele andere in Syrien unter dem seit Jahren sinkenden Wasserstand infolge ausbleibenden Regens und einem katastrophalen staatlichen Umgang mit Bodenressourcen. Tausende, die vor der seit sechs Jahren vor allem den Norden und Nordosten Syriens treffenden Dürre flohen, sind in Daraa gestrandet. Indes ist dies nicht der einzige Ort wo die UN-Schätzungen zufolge insgesamt 300.000 Dürreflüchtlinge leben. Auch rund um die Hauptstadt sind sie angesiedelt, in Zeltlagern, unter erbärmlichsten Bedingungen.

Einer Studie der UNDP von 2007 zufolge, leben 33,6% der 20 Millionen Syrer unterhalb der Armutsgrenze. Es ist wahrscheinlich, dass sich diese Betroffenen den Aufständen, sollten diese zunehmen, anschließen. Jedoch ist weniger davon auszugehen, dass sie ähnlich wie in Tunesien als eigentlicher Antriebsmotor fungieren werden. An sich verhält sich die Situation in Syrien schwieriger als in Tunesien oder Ägypten, da alle politische und wirtschaftliche Macht in den Händen der regierenden Assad-Familie gebündelt liegt.

Mittels gelockerter Wirtschaftsgesetze ließ sie zudem eine Mittelschicht erstarken, die mit dem Regime anteilige Geschäfte betreibt und der demzufolge nicht an dessen Sturz liegt. Hinzu kommt die Minderheitenkarte, die die Diktatur seit über 40 Jahren spielt: Selbst der alawitischen Minderheit angehörend, sorgte die Assad-Familie dafür, dass sich Militär und Geheimdienst vorwiegend aus Alawiten zusammensetzen. Parallel wurde der christlichen Minderheit kontinuierlich suggeriert, dass sie ohne den „Schutz“ des säkularen Regimes von der sunnitischen Mehrheit angegriffen würde.

Den im Norden und Nordosten lebenden Kurden wird indes großteils die Staatsbürgerschaft vorenthalten. Bekämen sie diese, wären sie in dieser Region in der Mehrheit und könnten die politischen Strukturen aufgrund ihres Wahlrechtes ändern.

Auch Kurdenerhebungen

Der Umstand, dass die Kurden bei ihrer Demonstration vergangenen Sonntag in Qamischli nach einem Kurdistan ausriefen , spielt dem Regime daher eher in die Hände. Statt konfessioneller und ethnischer Absonderungen wäre das Festhalten einer gemeinsamen syrischen Flagge der Protestbewegung zuträglicher.