"Ich hätte nie gedacht, dass das Militär so etwas tut"

Ägypten: Bei der Armee hört die neue Freiheit auf

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Das Symbol ziert Anstecker, Aufkleber und Plakate: zwei Hände, die ineinander greifen, daneben schwebt eine Friedenstaube. Manches Mal wird es verwendet, um die Einheit von Christen und Muslimen zu verdeutlichen, doch seit der Revolution steht es in Ägypten für etwas anderes: die Zusammenarbeit von Soldaten und Protestierenden. „Armee und Volk – Hand in Hand!“ war ein Slogan der Revolution, er ist auch Wochen nach der Revolution in den Straßen Kairos und bei Demonstrationen auf dem zentralen Tahrir-Platz zu hören.

Von einer Arbeit Hand in Hand kann indes längst keine Rede mehr sein. Am 9. März räumte das Militär, das nach dem Rücktritt von Präsident Mubarak Mitte Februar die Macht übernommen hat, das Protestcamp, das bis zu diesem Zeitpunkt noch immer auf dem Tahrir-Platz stand.

Das Militär nahm über 200 Menschen fest – und folterte sie zum Teil brutal. Ein Teil der Festgenommenen wurde in Schnellverfahren von Militärgerichten zu ein bis drei Jahren Haft verurteilt, von anderen fehlt bis heute jede Spur.

Folter im ägyptischen Museum

Diejenigen, die inzwischen freigelassen wurden, berichten, wie Soldaten sie nach der Festnahme zum ägyptischen Museum brachten, das das Militär derzeit als temporären Stützpunkt nutzt – und das die Journalistin Rasha Azab nach den jüngsten Vorfällen „Schlachthof des Tahrir“ getauft hat.

„Sie schlugen uns dort vom ersten Moment an brutal“, erzählt Ramy Essam, ein 23-jähriger Student, der während der Proteste auf dem Tahrir-Platz mit seinen selbst geschriebenen Revolutionssongs bekannt wurde.

Ich versuchte erst gar nicht mit den einfachen Soldaten zu diskutieren …Ich wartete auf die politischen Offiziere, ich war mir sicher, sie würden unsere Position verstehen. Das Gegenteil war der Fall! Die Offiziere gingen noch brutaler mit uns um. Sie warfen mich zu Boden und prügelten auf mich ein. Dann zogen sie mich aus und schnitten mir die Haare ab. Sie verwendeten verschiedene Arten der Folter... Sie schlugen uns mit Stöcken, Stromkabeln, Gürteln und Drähten. Sie schlugen uns mit Schuhen ins Gesicht, einer sprang auf mein Gesicht. Dann schleiften sie mich auf den Hinterhof des Museum und schmierten mir Dreck ins Gesicht. Offiziere begannen mir Elektroschocks zu verabreichen...

Essam hat wenige Tage nach seiner Freilassung ein Video auf seine Facebook-Seite und Youtube gestellt, in dem er detailliert über die Folter berichtet, seinen zerschundenen Rücken, die struppigen Reste seiner Haare zeigt. Andere Aktivisten sind ihm gefolgt und haben öffentlich gemacht, wie das Militär sie behandelt hat: Etwa der Schauspieler Aly Sobhy, der zusammen mit Essam verhaftet wurde. Oder Salma El Hosseina Gouda, die Soldaten ebenfalls ins Ägyptische Museum schleppten:

Sie hielten mir Elektroschocker an die Beine, anderen Mädchen auch an die Brust. Mein Freund war auch verhaftet worden, sie hatten ihm gleich zu Beginn einen Arm gebrochen und brachen ihm dann [im Museum] den anderen. Dann quälten sie auch ihn mit Strom. Wir [Frauen] wurden der Prostitution angeklagt, wir saßen vollkommen nackt vor den Soldaten. Und wenn ein Mädchen widersprach und sagte sie sei Jungfrau, kam einer und „checkte“ das.

„Retterin der Revolution“

Es waren nicht die ersten Fälle von Folter, seit das ägpytische Militär nach dem Rücktritt von Präsident Hosni Mubarak die Macht übernommen hat: Schon am 26. Februar hatte das Militär eine Demonstration aufgelöst (siehe Rückkehr zum Schlagstock-Dialog mit der Jugend) und mindestens neun Personen gewaltsam verhaftet. Die Armee hat sich noch am selben Tag öffentlich entschuldigt und zugesichert, dass so etwas nicht wieder vorkommen werde.

Große Teile der Bewegung haben dies geglaubt – auch wenn ein Militärgericht Amr Al-Bahari, einen der verhafteten Demonstranten, nur drei Tage danach zu fünf Jahren Haft verurteilt hat. Das Militär hat in Ägypten traditionell einen guten Ruf, im Gegensatz zur verhassten Sicherheitspolizei, einer Art Stasi, die willkürlich folterte und verhaftete, oder der Polizei, die ebenfalls als brutal und korrupt galt. Durch die allgemeine Wehrpflicht bestehen enge Verbindungen zwischen Bevölkerung und Militär.

Dass die Militärführung sich weigerte, auf die eigene Bevölkerung zu schießen, dass manche Soldaten sich mit den Demonstranten verbrüderten, dass Offiziere den Befehl verweigerten und sich auf die Seite der Revolution stellten, hat dem Militär den Ruf einer „Retterin der Revolution“ eingebracht. Er sei nur an der Macht um die Forderungen der Revolution umzusetzen, ließ ein Sprecher des Militärrates nach der Machtübernahme verlauten.

„Einzelfälle sind das nicht“

Umso tiefer sitzt der Schock in weiten Teilen der Bewegung jetzt. Die Videos und Aussagen der Gefolterten haben sich über soziale Netzwerke wie Facebook rasch verbreitet, in fast jedem Freundeskreis gibt es jemanden, der von den Militärs gefoltert wurde und nun schwer traumatisiert ist. „Ich hätte nie gedacht, dass das Militär so etwas tut“, sagt Fatima, 25, eine Freundin von Essam. „Wir dachten, die stehen auf unserer Seite!“ Hamid, 21, hatte zunächst noch gehofft, dass es sich um Einzelfälle handele. Jetzt ist er sich sicher: „Einzelfälle sind das nicht.“ Er ist wütend, ratlos. „Wir haben die Sicherheitspolizei doch nicht verjagt, damit das Militär jetzt mit denselben Methoden weitermacht.“

So sieht das auch Rasha Azab, die Journalistin, die ebenfalls einen Bericht über ihre Verhaftung am 9. März geschrieben hat. Sie geht, wie viele der verhafteten politisch Engagierten von einer „koordinierten Aktion“ aus und berichtet von Diskussionen mit Offizieren im ägyptischen Museum, die ebenfalls nahelegen, dass die jungen Aktivisten nicht zufällig festgenommen worden sind:

Die Offiziere mit denen wir schon bei der Sitzblockade am ersten Freitag [dem 26. Februar] aneinandergeraten waren, kamen vorbei, einer nach dem anderen, um sich an mir zu rächen. Einer sagte: „Ich fand es schon verdammt schade dass wir euch das letzte Mal gehen lassen mussten, warte nur ab, was ich jetzt mit dir machen werde.“ Ein anderer sagte: „Die von euch die immer noch durch die Straßen rennen und uns Probleme machen werden wir wir schon dazu bringen, dass ihr in euren Häusern bleibt. Und ein dritter: „Glaubt ihr wirklich, wir lassen euch das Land regieren?

Die rote Linie

Über Jahrzehnte hinweg hatte die Angst vor Verhaftung und Folter jede politische Organisierung, jede öffentliche Diskussion unterdrückt. Das holen die Ägypter nach, seit sie den Präsidenten und sein Regime gestürzt haben: An jeder Straßenecke wird lebhaft über Politik diskutiert, die Zeitungen schreiben frei wie wie noch nie, in den Talkshows wird um Themen gestritten, die lange Zeit als Tabu galten. Für das Thema Militär gilt diese neue Freiheit noch nicht:

Interne Angelegenheiten des Militärs seien noch immer eine rote Linie, die man nicht ohne Gefahr übertreten könne, sagt der Journalist Fathy Abou Hatab von der Tageszeitung Al-Masr Al-Youm. Das Militär hat nicht nur seit Jahrzehnten eine einflussreiche Rolle in der Politik, ihm gehört auch faktisch ein großer Teil des Landes: Land, Fabriken, Agrarbetriebe, Hotels und Strände. (siehe Die ägyptische Armee als "zweiter Pharao"). In der Bevölkerung gilt das Militär dennoch als sauber – Folter und willkürliche Verhaftungen hat es in den Jahren vor der Revolution weitgehend der Sicherheitspolizei überlassen. Das scheint sich nun zu ändern.

Die Angst unter denen, die von den Folterfällen im ägyptischen Museum mitbekommen haben, ist groß, dass die noch junge Freiheit sich rasch wieder verflüchtigt, wenn statt der Sicherheitspolizei nun das Militär foltert und willkürlich verurteilt. „Seid ihr das Militär oder die Sicherheitspolizei?“ fragt die Journalistin Azab entsetzt, als sie sieht, wie die Soldaten im ägyptischen Museum Menschen zusammenschlagen und mit Elektroschocks quälen. Der Offizier, mit dem sie spricht, grinst. „Wir sind die neue Sicherheitspolizei.“

Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat mit ähnlichen Einschätzungen auf die Vorfälle reagiert: „Die Attacken der Sicherheitskräfte auf Demonstranten klingen nach dem alten Ägypten, nicht nach dem neuen, auf das so viele hoffen“, heißt es in einer Erklärung zum 9. März.

Wunsch nach „Ruhe und Stabilität“

Die Strategie des Militärs, scheint es, hat sich seit dem 9. März verändert: In den ersten Wochen nach der Machtübernahme setzte es auf Dialog mit den Protestierenden gesetzt, wohlwissend, dass ein großer Teil der Bevölkerung hinter den Forderungen der Revolution steht und Hunderttausende bereit waren, beim kleinsten Anlass erneut auf die Straße zu gehen. Doch in weiten Teilen der Bevölkerung ist der Wunsch nach „Ruhe und Stabilität“ stärker: Zahlreiche Aktivisten berichten von erbitterten Diskussionen mit Eltern und Verwandten, die der Meinung sind, „jetzt sei es aber genug“.

Der brutalen Räumung des Tahrir-Platzes haben sich auch Ladenbesitzer aus den umliegenden Straßen angeschlossen, sie werfen den Protestierenden vor, Touristen abzuschrecken und die Wirtschaft zu schädigen. Das Militär profitiert von dieser Stimmung in dem es sich als Garant von Sicherheit und Ordnung präsentiert, wobei es gleichzeitig zusammen mit den Resten des alten Sicherheitsapparats and der Diskreditierung der weiterhin protestierenden Reste der Bewegung arbeitet.

Der Erfolg dieser Strategie wird exemplarisch am der Räumung des Tahrirplatzes deutlich:„Auf dem Platz befanden sich zum Schluss keine Aktivisten mehr“, hört man in den Straßen und Cafes häufig, und selbst ein Teil derer, die während der Revolution tagelang auf dem Tahrir-Platz ausharrten, übernahmen das Bild, das Fernsehen und Zeitungen vor der Räumung verbreitet haben: „In dem Camp hingen zum Schluss nur noch Drogendealer und Obdachlose herum, die Passanten anpöbelten, Waffen besaßen.“

Es gab einige Obdachlose, die häufig ins Camp kamen, erzählt Ahmed, ein junger Aktivist, der ebenfalls am 9. März festgenommen wurde. „Wir haben ihnen lesen und schreiben beigebracht.“ Auf Waffen und Drogen wurde am Eingang zum Camp bis zum Schluss streng kontrolliert. Das Militär räumte den Platz auch nicht allein: Es griff ein, nachdem Gruppen bezahlter Schläger das Camp angegriffen hatten und konnten sich so als Schlichter präsentieren – die Beobachtungen der Festgenommenen, die auf eine enge Kommunikation zwischen Schlägertruppen und Soldaten hinweisen, haben es nicht in die ägyptische Öffentlichkeit geschafft.

Strategie der Militärs

Für den Fortgang der Revolution in Ägypten ist entscheidend, ob diese Strategie der Spaltung und Diskreditierung der Bewegung aufgeht – und ob es dieser gelingt, in den eigenen Reihen aber auch in der Bevölkerung das bestehende Tabu zu brechen und das saubere Image der Armee in Frage zu stellen. Denn ungeachtet seiner Macht balanciert dieses auf einem schmalen Grat und scheint seinen endgültigen Umgang mit einer auf einmal hochpolitisierten Bevölkerung und sehr viel freieren Medien noch nicht gefunden zu haben.

Geht es zu hart vor, riskiert es, den Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren. Gleichzeitig muss es die Dynamik der Bewegung brechen um seine Macht und Privilegien nicht zu verlieren. Dabei setzt es verschiedene Mittel ein: Gewalt und Einschüchterung gegen die kritische Stimmen, ergänzt auf der anderen Seite durch eine verbesserte „PR-Arbeit“, etwa einer Facebook-Seite, auf der jeder „Fan des Militärs“ werden kann.

Außerdem gehen zahlreicher Beobachter davon aus, dass es auch im Militär verschiedene Fraktionen gibt, ein zu hartes Vorgehen oder umgekehrt eine zu starke Annäherung an die Protestbewegung würde die internen Spannungen verstärken. Genau das jedoch, so ist zu vermuten, will das auf Einheit bedachte Militär auf jeden Fall vermeiden.

Vor allem jene jungen Aktivisten, die erst mit durch die jüngsten Ereignisse politisiert wurden und gerade erst dabei sind, in ihrem Leben „nach dem Tahrir“ anzukommen, stellen schmerzhaft fest, dass die Revolution noch längst nicht gewonnen ist. Dass es gefährlich ist, die Umsetzung der Forderungen demselben Militärapparat zu überlassen, der seit Jahrzehnten die Politik und die Ökonomie des Landes beherrscht. Dass sie wahrscheinlich noch mehr als einmal auf den Tahrir-Platz ziehen müssen, wollen sie die neue gewonnene Freiheit nicht wieder verlieren.