Schmutzige Kriegsführung in Afghanistan

"Afghanistan Rights Monitor" bezeichnet die positive Bewertung der ISAF durch den jüngsten UN-Bericht als Fehlinformation

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Die UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) behauptet in einem Anfang März veröffentlichten Bericht, die ISAF Soldaten hätten 2010 bedeutend weniger Zivilisten getötet als in den Jahren zuvor. Dem widersprechen lokale Menschenrechtgruppen und werfen der NATO das gezielte Töten von Zivilisten vor. Dr. Hans-Georg Ehrhart vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) sieht Dynamik der "schmutzigen Kriegsführung".

In dem am 9.März vorgestellten Bericht bezüglich des Schutzes von Zivilisten in Afghanistan im Jahre 2010 verzeichnet die UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) einen Anstieg ziviler Opfer um 15% auf 2777 Fälle. Besonders rücksichtslos stellen sich die Aktionen der Aufständischen dar. Diese werden für 75% der zivilen Opfer verantwortlich gemacht. Pro-Regierungstruppen hingegen wären zunehmend um den Schutz der Bevölkerung bemüht. Lediglich 16% der getöteten Zivilisten gingen auf deren Aktionen zurück – verglichen mit 2009 ein Rückgang um 26%.

Die Unabhängige lokale Menschenrechtsgruppen Afghanistan Rights Monitor (ARM) reagierte mit heftiger Kritik auf diese Darstellungen. So würde sich die UNAMA, anstatt den Menschen zu helfen, an politisch motivierten Schuldzuweisungen und dem Verbreiten von falschen Informationen beteiligen.

Besonders kritisiert wird die fehlende vergleichbare Datengrundlage des Berichts, bei welchem auch die Unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission (AIHRC) mitgewirkt hatte. Dies könne zu Missinterpretationen und Feindseligkeiten gegenüber den jungen und wirklich unabhängigen Menschenrechtsgruppen führen. In einem bereits im Februar veröffentlichten Report von ARM werden die NATO-Soldaten zusammen mit den afghanischen Sicherheitskräften für 33% der zivilen Opfer verantwortlich gemacht, die Aufständischen für 63%. Das Datenmaterial der UNAMA beschreibt die Vorfälle wenig präzise. Demgegenüber wird in einem Science-Artikel die hohe Transparenz und Schärfe der Werte von ARM gelobt.

Gezielte Angriffe auf Zivilisten

Während die UN-Mission davon ausgeht, der NATO gelänge es die Bevölkerung effektiver zu schützen, spricht Afghans for Peace von gezielten Angriffen auf die Menschen. Allein in der Zeit von Mitte Februar bis zum 1. März wurden mindestens 80 Zivilisten bei Angriffen der NATO getötet. Darunter auch Frauen und Kinder. Versprochene Ausgleichzahlungen würden meistens nicht geleistet.

Ferner weisen Menschenrechtsgruppen darauf hin, dass grundsätzlich jedes Todesopfer als Taliban dargestellt wird. In einem bekanntgewordenen Fall wurden zwei getöteten schwangeren Frauen sogar die Kugeln aus dem Körper entfernt, um deren Ermordung zu vertuschen.

Des Weiteren kritisiert ARM systematische Vertreibungen der Zivilbevölkerung sowie die Ausbildung und Bewaffnung paramilitärischer Einheiten durch die NATO. Diesen irregulären Milizen werden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen wie Vergewaltigungen oder das Rekrutieren von Minderjährigen vorgeworfen. Anstatt für Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit zu sorgen, legitimiert und fördert die NATO durch diese Strategie problematische Gewaltstrukturen. Mr. Akmal Dawi von ARM bestätigte auf Anfrage von Telepolis, dass derartige Milizen auch in den Provinzen Kunduz und Baghlan ihr Unwesen treiben. Die deutschen Wiederaufbauteams wüssten von dieser Situation.

Foto: Afghans for Peace

Dr. Hans-Georg Ehrhart vom IFSH ist von dieser Entwicklung nicht überrascht. Denn im Grunde geht es in Afghanistan, trotz abweichender Rhetorik, um eine Strategie der Counterinsurgency (Aufstandsbekämpfung). In solchen Szenarien werden Aufstandsbewegungen regelmäßig mit größter Brutalität bekämpft. Die große Anzahl getöteter Zivilisten erklärt sich unter anderem dadurch, dass diese praktisch nicht von den Aufständischen zu unterscheiden seien. Aus diesem Grund bedient sich das Militär der Praxis des "nicht diskriminierenden", d.h. unterschiedslosen, Tötens – für Afghans for Peace ein klarer Verstoß gegen die Genfer Konvention.

Daneben trägt das allgemeine Klima der Gewalt zu einer "Verrohung" der Soldaten bei. Dies erhöht das Risiko, dass bestehende Wertesysteme ihre Gültigkeit verlieren und Menschen zu nicht geahnter Brutalität fähig werden. Auf ein solch komplexes Konfliktszenario sei die Bundeswehr in keinster Weise vorbereitet, so Ehrhart. In der Konsequenz würden sich auch die deutschen Soldaten dieser "schmutzigen Kriegsführung" nicht entziehen können. Auch weil die nördlichen Provinzen zunehmend zum Operationsgebiet der Aufständischen würden.

Dass die neue Strategie der "Übergabe in Verantwortung" eine Wende zum Besseren bringt, bezweifeln Experten. Denn nüchtern betrachtet birgt der Aufbau der afghanischen Armee die Gefahr, ein autoritäres und korruptes System unter der Herrschaft zwielichtiger Warlords zu zementieren. Fragen der Menschenrechte oder der gerechten Ressourcenverteilung geraten dabei leicht in den Hintergrund.