Neulandgewinnung im Cyberspace

Raus aus dem Kreisverkehr: ICANN stolpert vorwärts

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Nach jahrelangen Diskussionen um die Einführung neuer Top Level Domains hat ICANN nun Flagge gezeigt. Am 20. Juni 2011 in Singapur soll die Schaffung von Neuland im Cyberspace beginnen. ICANN ist offensichtlich bereit, sich mit den Regierungen anzulegen, denn beim 40. ICANN-Treffen in San Francisco wurde auch gleich noch die strittige .xxx Domain durchgewunken.

Noch bei Halbzeit hatte es beim jüngsten ICANN-Treffen in San Francisco ausgesehen, also würde das Thema der Einführung neuer Top Level Domains (new gTLDs) in der seit Jahren rotierenden Endlosschleife verbleiben. Auch nach der Brüsseler Sondersitzung Anfang März 2011 drehten sich das ICANN-Direktorium und die im Governmental Advisory Committee (GAC) vertretenen Regierungen um die eigene Achse und es schien, als würde erneut die Ausfahrt aus dem Kreisverkehr verpasst.

Schaffung von virtuellen Grundstücken

Das Thema ist ja in der Tat nicht ganz unstrittig und niemand bestreitet die Notwendigkeit, gründlich zu prüfen, bevor man irreversible Entscheidungen trifft. Immerhin geht es um so etwas wie Neulandgewinnung im Cyberspace, um die Schaffung von attraktiven virtuellen Grundstücken für neue virtueller Schlösser, Fabriken, Warenhäuser, Lautsprecher und Kommunikationsplattformen. Die seit Mitte der 90er Jahre vorgetragenen Bedenken, neue Top Level Domains könnten die Sicherheit und Stabilität des Internet gefährden, den Konsumenten verwirren oder die ganze Statik des Cyberspace durcheinanderbringen, entpuppten sich jedoch mehr und mehr als nichts anderes als eine Verzögerungstaktik, mit der spezielle Interessengruppen - von den Markenrechtsinhabern bis zu den Domainname-Platzhirschen - ihre komfortable Monopolstellung in diesem Milliardenmarkt sichern wollten, um den Preis für eine im Grunde unbegrenzte und nahezu kostenlose virtuelle Ressource durch eine künstliche Begrenzung hochzuhalten. Als dann noch Regierungen entdeckten, dass es "böse" oder gar "gefährliche politische Worte", gibt, die man im Internet lieber nicht in einer Top Level Domain verwenden sollte, war eine unheilige Allianz geschaffen, die zunehmend als Bremsklotz für die nächste Internet-Innovation wirkte.

Zwar hatten sich ICANN und das GAC nach den Treffen in Nairobi (März 2010), Brüssel (Juni 2010) und Cartagena (Dezember 2010) aufeinander zu bewegt. Die Bewegung schien aber in einen "circulus vitiosus" zu münden bei dem die streitenden Parteien sich im Grunde einig waren, sich aber in Details verloren und nicht mehr zueinander finden konnten.

Die Regierungen forderten, dass neue TLDs natürlich nicht kollidieren dürften mit nationalen Rechtsordnungen und Entscheidungen unabhängiger Gerichte. ICANN akzeptierte den Grundsatz, aber fragte zurück, wie das denn bei 190+ nationalen Rechtsordnungen im Einzelnen funktionieren solle? Für ICANN war der vorgeschlagene Einspruchsmechanismus, mit denen auch Regierungen in begründeten Einzelfällen neue TLDs stoppen könnten, ausreichend. Das bei einem solchen Einspruchsverfahren Kosten entstehen, war wiederum für die Regierungen unakzeptabel. Kein Bürgermeister einer kleinen Landgemeinde wird das Geld aufbringen können, um den Ortsnamen vor einer internationalen TLD-Streitschlichtungsbehörde zu sichern. Die von den Regierungen entwickelte Idee eines Frühwarnsystems, mit dem strittige TLDs noch im Entstehungsstadium gestoppt werden können, fand daher das ICANN Direktorium gar nicht so schlecht. ICANN wollte nun aber von den Regierungen wissen, wie den ein solches "Early Warning System" auszugestalten sei. Das sei nicht die Aufgabe der Regierungen, da müsse ICANN mit einem für die Regierungen kostenneutralen Vorschlag kommen, sagte das GAC. Darauf ICANN: Wenn das GASC was haben will, soll es auch sagen, wie es machbar gemacht werden kann.

Und so schien sich auch in San Francisco das Schwarze-Peter-Spiel auf Kosten der mittlerweile auf mehrere hundert angewachsene, in den Startlöchern sitzende Antragsteller fortzusetzen. Sarkastische Kommentare aus dem Publikum begleiteten dieses politische Armtwisten, das seine skurrile Krönung bei der Music-Night auf dem Union Square in San Francisco hatte, als die GAC-Mitglieder beim spätabendlichen Karaoke einen Chor bildeten und "We are the Champions" sangen. Der musikalische vorgetragene gouvernementale Machtanspruch auf das Recht des letzten Wortes wurde aber noch am selben Abend übertönt, als ein noch größerer Multistakeholder-Chor sich auf die Bühne versammelte und "We are a family" sang.

Bill Clintons Wake Up Call

Offensichtlich wirkte die Absurdität dieser musikalische Komödie wie ein Wake-Up-Call. Langsam schien beiden Seiten zu dämmern, dass ein Scheitern des neuen gTLD Programms ein Scheitern von ICANN und dem globalen Multistakeholder-Governance-Modell bedeuten würde. Lachende Dritte eines solchen Scheiterns wären jene Regierungen, denen die ganze Richtung, d.h. Mitwirkung von Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft und der technischen Community an der Entwicklung, Gestaltung und Beschlussfassung von globaler Internet Politik, nicht passt.

China zeigt gerade, wie man das Domainname-System von oben staatlich durchregieren kann. Jeder beantragte Domainname muss nun schriftlich (mit Passbild des Antragstellers) einer Behörde vorgelegt werden, die dann entscheidet, ob der vorgeschlagene Domainname auch "gut" ist. Die auf dem Domainnamen aufgebaute Website wird dann regelmäßig kontrolliert, ob sie auch nur "gute Inhalte" enthält, sonst gibt es wie im Straßenverkehr Warnungen, Bußgelder oder den Entzug der "Fahrerlaubnis".

Auf diese Weise sank die Zahl der registrierten Domainnamen unter dem Ländercode .cn von ehemals knapp 14 Millionen auf jetzt rund vier Millionen (bei 500 Millionen Internetnutzern im Land). Und die von ICANN delegierte iDN ccTLD .china mit chinesischen Buchstaben kommt nicht aus dem Knick. Während es die russische .rf Domain in kyrillisch binnen weniger Monate auf knapp eine Million Registrierungen gebracht hat, dümpelt .china in chinesisch nach einem halben Jahr bei wenigen Zehntausenden herum.

Mit dieser Alternative und den Ratschlägen des ehemaligen US Präsidenten Bill Clinton, unter dessen Präsidentschaft ICANN 1998 gegründet wurde, im Kopf, brach sich am vorletzten Tag des ICANN-Meetings in San Francisco endlich der politische Wille Bahn, sich aus dem Kreisverkehr hinaus zu bewegen. Clinton hatte in seiner Rede im Großen Ballsaal des St-Francis Westin Hotels Internet Governance als einen Prozess des "Vorwärtsstolperns" bezeichnet. Und er hatte überzeugend vor Augen geführt, dass man Wachstum und damit neue Jobs in der Weltwirtschaft nur dann generieren könne, wenn man sich in noch unerschlossenes Territorium traut. Bloßes Umschaufeln bereits beackerter Flächen hätte nur ein begrenztes Wachstumspotential und sei nicht hinreichend, um den Ansprüchen der Zukunft zu genügen.

Clinton sagte zwar, er wolle sich in den TLD-Streit nicht einmischen, seine aus der Vogelperspektive geäußerte Sichtweise zeigte aber offensichtlich Wirkung. Nach einer turbulenten Woche entschied schließlich das ICANN-Direktorium einstimmig, sich auf das Risiko der Neulandgewinnung im Cyberspace einzulassen und den Prozess – nach sorgfältiger Abwägung und nach Prüfung aller noch in letzter Minute vorgebrachter Einwendungen der Regierungen – am 20. Juni 2011 beim nächsten ICANN-Treffen in Singapur zu beginnen. Das sei kein Konfrontationskurs gegen die Regierungen, aber es bedürfe jetzt eines mutigen Schrittes nach vorn.

Das Gute an der langwierigen Debatte mit den Regierungen sei, so hieß es bei ICANN, dass in diesem intensiven kontroversen Dialog beide Seiten viel gelernt hätten und das wechselseitige Verständnis erheblich gewachsen sei. Nun müsse man die Einzelfälle abwarten, die neue Kontroversen produzieren um dann, Fall für Fall auf der Basis einer vertrauensvollen Kooperation, nach individuellen Lösungen zu suchen.

Die Kuh ist noch nicht vom Eis, aber nach dem San Francisco Meeting ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass die angekündigte TLD-Party am Singapur River abgesagt werden muss und die Löwenstadt nicht den Einstieg in den Aufstieg sieht.

Die nächste Stunde der Wahrheit

Man sollte aber nicht erwarten, dass der Cyberspace sich nur rasend schnell vergrößert. Das wird ein komplizierter und für viele Bewerber auch kostspieliger Weg. Man tastet sich vorwärts und der Teufel liegt bekanntlich im Detail. Und jeder Teufel hat einen Anwalt. ICANN wäre daher gut beraten, in einer ersten Runde den Antragstellern Vorrang zu geben, die nach normalem Menschenverstand nicht die Quelle von Kontroversen sind. Also lieber erst einmal .berlin, .paris und .afrika als .korsika, oder .tibet, lieber .shop und .sport als .jihad oder .paedophile

ICANN wird sich aber nicht ganz aussuchen können, in welche Kontroverse es demnächst hineingezogen wird. Der unglückliche Fall mit der .xxx Domain ist ein grausames Negativbeispiel. Hätte ICANN von Anfang an ein gut begründetes formales klares Nein gesagt, hätte es sich quälende Diskussionen und Millionen Porzesskosten erspart. Nach all den Verfahren und Einsprüchen blieb dem ICANN-Board nun aber keine andere Möglichkeit mehr, als .xxx zuzustimmen.

ICANN könne und wolle sich nicht zu Fragen des Inhalts äußern. Dafür seien andere zuständig. Die Augen aber vor der Wirklichkeit zu schließen, sei letztlich auch nichts anderes als eine publikumswirksame Heuchelei, sagte der neue ICANN-Direktor Bertrand de la Chappelle - und er hat offensichtlich nicht unrecht, wenn er argumentiert, dass .xxx unter dem neuen gTLD-Programm wiederkommen würde und ICANN dann nicht den Antragsteller ICM Registry in den jetzt anvisierten ziemlich strikten Aufsichtsmechanismus einbinden könne.

Aber auch ICANN-Direktor George Sodowsky hat Recht wenn er sagt, die TLD .xxx sei ein Einladung, regierungsamtliche Zensur- und Filtersystem weiter auszubauen. Natürlich ist es für eine Regierung viel einfacher, eine ganze Top Level Domain zu sperren als tausenden Secondary Level Domains (SLDs) nachzujagen, die unter allen möglichen TLDs verstreut sind. Es war zwar keine Beruhigungspille, aber zumindest tröstlich das ICANN-Direktorin Suzanne Wolff vom Root Server System Advisory Committee (RSSAC) klarstellte, dass das Filtern einer TLD oder eine SLD keine negativen Auswirkungen auf Stabilität, Sicherheit und Funktionsweise des Internet insgesamt hat und jedes Filtersystem, ob bei einer SLD oder einer TLD, gleichermaßen umschifft werden kann.

Die Welt ist, wie sie ist, und wenn man kein Risiko eingeht, kommt man nicht vorwärts, argumentiert Erika Mann, nach 15 Jahren im Europäischen Parlament seit 2010 ICANN-Direktorin. Auch sie stimmte abschließend für die Resolution, die mit neun Ja-Stimmen bei drei Nein-Stimmen und drei Enthaltungen angenommen wurde.

Mit dieser Entscheidung naht nun eine andere Stunde der Wahrheit. Die US-Regierung gehörte ja zu jenen GAC-Mitgliedern, die erhebliche Bedenken gegen .xxx geäußert hatten. Da baut sich nun eine interessante Konstellation auf. Nach dem jetzigen Verfahren wird das Zone File für die gTLD .xxx, sobald die Verhandlungen zwischen ICANN und ICM Registry abgeschlossen sind, auf dem Tisch der National Telecommunication and Information Administration (NTIA), einer Abteilung des amerikanischen Handelsministerium (Department of Commerce/DoC) landen. Das DoC ist zuständig für die Autorisierung der Publikation von TLD Rootzonefles im von Verisign gemanagten Hidden Root Server. Die US-Regierung hat also die Möglichkeit, die Eintragung von .xxx im Root zu verhindern.

Es gibt in der 30jährigen Geschichte des Domain Name Systems (DNS) bislang aber keinen einzigen Fall, wo die US-Regierung diese als technisch definierte Funktion als politisches Instrument missbraucht hätte. Im Gegenteil, sie hat ihre von vielen Regierungen kritisierte Sonderrolle immer mit dem Hinweis verteidigt, dass sie der "neutrale Interessenbewahrer" der globalen "Internet Community" sei und dass kein Land fürchten müsse, dass das Zone File einer Länderdomain (ccTLD) aus politischen Gründen aus dem Root entfernt werden könnte.

Würde nun im Falle von .xxx die US-Regierung von der theoretischen Möglichkeit des Einsatzes eines Folterinstruments Gebrauch machen und das Rootzonefile nicht an Verisigns Hidden Server weiterleiten, würde sie sich selbst der Lüge bezichtigen. Die US-Regierung würde ihre Glaubwürdigkeit, der neutrale Interessenverwalter der Community zu sein, verlieren und das Gelächter in Peking wäre groß. Dort würde man mit dem Finger auf ICANN zeigen und aller Welt erklären, dass das Internet unter US-Kontrolle steht und man daher ein alternatives, unter UN-Kontrolle stehendes Internet benötige. Denn beim UN Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) habe man schon 2005 vereinbart, dass keine Regierung Sonderrechte haben solle.

Der ganze Fall gewinnt noch zusätzlich an Delikatesse, da der sogenannte IANA-Vertrag zwischen der US-Regierung und ICANN im Oktober dieses Jahres ausläuft und erneuert werden muss. Die US-Regierung hat gerade einen Aufruf veröffentlicht, in dem um Vorschläge gebeten wird, wie der IANA-Vertrag weiter entwickelt werden könnte. Da kommt der .xxx-Fall als ein Lackmustest für die Belastbarkeit des bestehenden Systems gerade zur rechten Zeit. Es bleibt also spannend im Minenfeld Internet Governance.

Wolfgang Kleinwächter ist Professor für Internetpolitik und -recht an der Universität Aarhus und Adviser des Chairs von ICANNs Nominating Committee (NomCom)