Zivilisatorischer Ernst und Psychopathie

Ungeschützte Gedanken zur japanischen Atomkatastrophe

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Wir brauchen eine halbwegs zuverlässige Welt, sonst packt uns die Angst. Auch der Zeitgenosse, der keine Choräle mehr singt, benötigt eine haltbare Alltagswelt und glaubt insgeheim an einen "Herren, der alles so herrlich regieret" und ihn "wunderbar erhält". Aufregung ist nur in Maßen gut. Morgen werde ich wieder aufwachen, mein Tagewerk vollbringen, den Kontoauszug kontrollieren und das Essen im Supermarkt einkaufen. Die Sonne soll scheinen, mein Partner soll neben mir liegen und die Kinder sollen lachen. Gewiss, so wird es sein. Zumindest das Nötigste, alle Tage. Ein- und Ausatmen ganz von selbst, ohne Krampf.

Bezogen auf die größeren Maßstäbe – nicht gerade kosmisch, aber unter der "Himmelskuppe" – verhält es sich nicht anders. So glauben wir z.B. gerne an eine "westliche Zivilisation" als Bollwerk von Vernunft, Humanität, Menschenrecht und Völkerrecht. Dass angeblich "linke" Spitzenpolitiker nach dem Ausscheiden aus der Politik flugs Spitzenfunktionäre von ganz bestimmten Konzernen werden, halten wir für betrübliche Ausnahmeerscheinungen. Das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Demokratie tröstet uns bei allen möglichen politischen Tagesmeldungen. Die Zuversicht, dass der Einspruch des gesunden Menschenverstandes angesichts ökologischer Bedrohungsszenarien Aussicht auf Erfolg hat, beruhigt uns – solange kein sinnenfälliger Gegenbeweis ins Auge sticht.

Die Vorstellung, dass ein Großteil der Wissenschaftler, Politiker oder Medienmacher vielleicht auch nicht sehr viel klüger ist als wir, behagt uns hingegen nicht. Wer möchte das Weltgeschick schon in den Händen von Laienschauspielern wissen – in den Händen von Dilettanten, die sich selbst überschätzen und nicht zu ihren ganz menschlichen Grenzen stehen?

Dass das öffentlich vermittelte Weltbild der Nachrichten zumindest grob mit der "Wirklichkeit" korreliert, müssen wir irgendwie voraussetzen. Die Alternative wäre ja eine gnostische Paranoia. Verschwörungspsychosen und Weltuntergangswahn gehören zwar zu den Zeiterscheinungen, aber wir Aufgeklärten wissen, dass dergleichen noch nie menschendienlich gewesen ist.

Wir sind zu zerbrechlich für den Ernstfall

Wir sind als Menschen einfach zu zerbrechlich für den zivilisatorischen Ernstfall. Und wenn das eintritt, was nach amtlicher Beglaubigung gar nicht möglich ist, geht unsere kleine Welt doch weiter wie zuvor: der tägliche Überlebenskampf in der Berufswerkstatt, die praktische Sorge um einen kleinen, kranken oder alten Menschen im eigenen Lebenskreis, die Arbeit an einem zu großen Projekt, ein frisches Liebeswunder genauso wie ein Gemütstief …

Kurzum: unsere seelischen, geistigen und körperliche Energien sind begrenzt. Wir müssen mit ihnen haushalten, und dazu gehört auch, einen roten Katastrophen-Ticker spätestens am dritten Tag einfach weg zu klicken. Die selbstgemachten Wichtig-Themen der Medien wischt man noch vergleichsweise leicht beiseite. Aber auch vom nächsten Leidensschauplatz der globalen Menschenfamilie möchte man eigentlich nichts mehr hören. Das ist menschlich!

Dass wir nach Hungerstillung und medizinischer Versorgung – trotz aller zivilisatorischen Heilsversprechen – der Natur noch immer hilflos ausgeliefert bleiben, ist für uns Menschen schon Kränkung genug. Die Barbarei der menschlichen Geschichte und die menschengemachten Bedrohungen für das Leben übersteigen jedoch vollends unsere geistigen und seelischen Kapazitäten. Wenn etwa die von Jean Ziegler mit Blick auf den Welthunger geltend gemachte Kategorie des Mordes stimmt, wofür alles spricht, wie können wir dann in den reichen Gesellschaften der Erde noch ruhig den Tagesgeschäften nachgehen? Wenn die Prognosen zum Klimawandel halbwegs zutreffen, was mir naturwissenschaftlich geschulte Freunde nahelegen, wie sollten wir dann die real existierende Politik nicht als ein lächerliches Kasperletheater wahrnehmen (an dem sich seit langem auch die im "Neoliberalismus" umgeformte ökologische Wohlfühl-Partei beteiligt)?

Seit über zwei Jahrzehnten haben wir die Umstellung auf eine Wissenschaft und Infrastruktur der gewaltfreien Konfliktlösung bzw. Kriegsprävention "verpasst", die zur Umsetzung der Vision von "Vereinten Nationen" nach dem Kalten Krieg so überfällig gewesen wäre wie nur irgendetwas. Stattdessen ist die Kriegsgüterproduktion ins Unermessliche explodiert: Mordwaffen "made in Germany" auf Platz drei und Lieferung an alle Freunde, von denen unsere Regierenden seit der arabischen Revolte plötzlich nichts mehr wissen wollen.

Gleichzeitig fehlt das nötigste Kleingeld zur (nicht-militärischen) Leidensminderung auf unzähligen globalen Schauplätzen, für deren Bewältigung wir über hinreichendes Wissen und genügend Ressourcen verfügen! Aber ja, wir wollen derweil weiter an den Weihnachtsmann der "humanitären Interventionen" und andere hochmoralische Akteure glauben.

Film-Apokalypse und Live-Ticker

Um all das ungeschminkt wahrzunehmen und gleichzeitig einen klaren Kopf zu behalten, braucht man schon eine gefestigte Persönlichkeit, Freunde und antidepressive Kontrasterfahrungen zumindest im Kleinen. Ansonsten muss man sich auf fundamentalistische Angstbetäubung verlegen.

Die antiquierte Sinn-Produktion von klassischen Philosophen und Theologen im Angesicht von Leid und Katastrophe kommt heute vornehmlich esoterisch daher. Unlängst hat mir eine intelligente Studentin überzeugend erzählt, wie sie in ihrem Leben durch die "Weisung des Tao" eine neue Perspektive für sich entdeckt hat. Dann aber wollte sie gleich das gesamte Universum und jegliche Menschengeschichte "tao-isieren", und siehe da: selbst die dunkelsten Abgründe – die Shoa inbegriffen – bekamen für sie einen geheimen Sinn. Ja, mit solch beruhigenden "theosophischen" Konstruktionen wird man die Welt sehr leicht als ein Zuhause begreifen, in dem es sich gut leben lässt.

Armageddon. Bild: Touchstone Pictures

Aber die Gewöhnung an das Skandalöse und Unvorstellbare kann auch Teil der Massenkultur werden, in welcher sich zugleich zivilisatorische Normen und "geistige Gesundheit" neu definieren lassen. Die massenkulturelle "Erinnerungskultur" ist ausgesprochen atomfreundlich. Atomkraft als unerlässliche Technologie zur Weltrettung war 1998 Gegenstand von gleich zwei militärisch geförderten Blockbustern. Sogar mit einem Kernkraftwerks-Spektakel kann man am Ende im Fernsehen Beruhigung verbreiten.

Manche Mediensortimente wollen allerdings gerade die Sehnsucht nach einem globalen Knall fördern (Armageddon und der apokalyptische "Holocaust"). Ein Großteil der Film-Apokalypsen und Katastrophen-Thriller auf dem Unterhaltungsmarkt erinnert mich an ein Wort von Walter Benjamin:

Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss erleben lässt.

Walter Benjamin

Die Tagesnachrichten finden Schritt für Schritt den Anschluss an solchen Wahn. Fiktion oder Wirklichkeit, spielt das im Infotainment noch eine Rolle? Ist es nicht überhaupt utopisch, von Medienmachern und Kulturschaffenden hilfreiche Darbietungsformen zu erwarten? Wenn Tschernobyl, Harrisburg und … und … uns nicht bewegen konnten, die eingefahrenen Denkbahnen zu unterbrechen und ganz anders sehen zu lernen, wie sollten es dann z.B. Kunstprodukte aus der Filmwerkstatt schaffen?