Großexperiment Atomtechnik

Haben die Politiker wirklich aus Fukushima Grundsätzliches gelernt, wie eifrig beteuert wird?

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Wer am Abend nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz die Äußerungen der Vertreter aller Parteien vernahm, konnte sich einer Sache sicher sein: Sie alle hatten aus der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima etwas gelernt. Dass es sich dabei um grundsätzliche Erkenntnisse handelt, darf aber getrost bezweifelt werden.

Welche neuen Informationen hat das Unglück beispielsweise über die Tschernobylkatastrophe hinaus geliefert? Es sei nun klar, dass so etwas selbst in einem "hoch technisierten Land" wie Japan passieren könne, gerade so als hätte es sich bei der Atom- und Raumfahrtnation der Sowjetunion um ein Entwicklungsland gehandelt. Viele wissen anscheinend auch heute noch nicht, dass der Reaktor in Tschernobyl mit einem vermutlich funktionierenden Sicherheitssystem ausgestattet war, das die Techniker manuell abgeschaltet haben. Ein solches Eingreifen wird man sich vermutlich bei jedem komplexen technischen System vorbehalten, um im absoluten Notfall nicht der versagenden Technik ausgeliefert zu sein.

Wer bisher daran geglaubt hat, eine solche Katastrophe könne sich (nur in Russland?), aber nicht in Japan, Deutschland, Frankreich ereignen, verrät entweder einen Mangel an Intelligenz, seinen schlechten Informationsstand oder maßlose Technokratie. In allen Fällen kann man Politikern, die auf einer solchen Basis für viele Generationen schwer wiegende Entscheidungen treffen, einen Vorwurf machen. Zumindest haben sie es versäumt, sich auch unabhängig von parteiischen Experten über die Technologie zu informieren. Oder einmal geistig einen Schritt zurückzutreten und den eigenen Glauben an das Funktionieren von Technologie grundsätzlich kritisch zu hinterfragen.

Schuld trägt dabei auch die Mehrheit der Wissenschaftler und Ingenieure, die sich und anderen keinen Zweifel am Funktionieren von Technologie erlauben. Dabei sollte sie die Erfahrung eigentlich eines Besseren belehren. Grundsätzlich lässt sich sagen: Je komplexer die Technologie, desto größer auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie irgendwann einmal versagt. Beispiele dafür sind entgleisende ICE-Züge, abgestürzte Flugzeuge, Autos mit versagenden Bremssystemen, gebrochene Staudämme und Giftschlammbecken, diese Aufzählung lässt sich endlos fortsetzen.

Grenzen der Wissenschaft

Dass solche Unglücke den Betreibern solcher Technologien und ihren Versicherern statistisch betrachtet werden, mag man zynisch finden, aber das ist eben die Art und Weise, wie eine ökonomisch orientierte Gesellschaft damit umgeht. Spätestens bei der Atomtechnologie, deren Folgen prinzipiell unabsehbar sind - wie spätestens seit Tschernobyl, wenn nicht seit den Atombomben in Japan klar ist - hat die statistische Betrachtungsweise keinen Platz. Selbst wenn man statistisch bestimmt, dass ein Unglück beispielsweise nur alle 10.000 Jahre geschieht, ist damit ja nicht ausgeschlossen, dass es eben morgen passiert und dann 9.999 Jahre lang nichts mehr geschieht.

Prinzipbedingt können die Ingenieure und Wissenschaftler nicht alle Faktoren in eine Kalkulation einbeziehen, die eine Rolle spielen könnten, denn es handelt sich um eine potenziell unendliche Anzahl von Ereignissen. Tatsächlich findet in der Realität eine Art Großexperiment statt, in dem auf der Basis von realen Unglücksfällen wie in Harrisburg "Verbesserungen" an anderen existierenden Reaktoren vorgenommen werden: Tschernobyl führte in deutschen Reaktoren zur Einführung des so genannten Wallmann-Ventils. 9/11 führte dazu, dass Reaktoren daraufhin überprüft werden, ob sie einem Angriff durch ein Passagierflugzeug standhalten. Auch aus Fukushima wollen Politiker und Betreiber wieder Schlüsse ziehen und weitere Heftpflaster an ihren Reaktoren anbringen.

Gegen das, was bisher noch nicht passiert ist, sind die Atomkraftwerke jedoch nicht gewappnet. Das ist grundsätzlich ausgeschlossen und führt bei anderen Technologien zu einem Restrisiko, dass die Beteiligten zumindest unbewusst und stillschweigend immer tragen. Im Fall der Atomkraft ist es aber unverantwortlich, eine Technologie weiter zu verfolgen, deren Risiken unkalkulierbar und deren Folgen gleichzeitig so schwer und langfristig wiegen.

Dasselbe gilt im übrigen für die Frage des Atommülls, in dem tatsächlich noch nicht einmal der illusorische Status erreicht ist, man habe die Technologie im Griff. Derzeit gibt es weltweit noch keinen Ort, der die theoretischen Anforderungen an ein solches Endlager erfüllt. Gescheiterte Experimente wie Asse, bei dem eine Verseuchung des Grundwassers droht und das nun zu jahrzehntelangen und kostspieligen Aufräumarbeiten zwingt, deuten das Problem nur an.

Auch hier zeigt sich die prinzipielle Unmöglichkeit eines solchen Unternehmens: Experten sollen garantieren, dass geologische Formationen auch noch in Millionen von Jahren so stabil sind, dass der Austritt von Radioaktivität aus einem Endlager unmöglich ist. Ein solcher Beweis ist wissenschaftlich unmöglich, man könnte bestenfalls das Gegenteil beweisen. Wenigstens diese Lehre könnten Wissenschaftler und Politiker aus dem Erdbeben in Japan ziehen.