"Für das Ende der Atomkraft braucht es noch zwei, drei Fukushimas"

Der russische Umweltaktivist und Ex-Kongressabgeordnete Alexei Jablokow über die Lehren aus Tschernobyl und die aktuelle Nuklearkatastrophe in Japan

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Alexei Wladimirowitsch Jablokow ist Präsident des von ihm gegründeten Zentrums für Russische Umweltpolitik sowie Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. Unter den Präsidenten Michail Gorbatschow und Boris Jelzin war er umweltpolitischer Berater des Kremls. Jablokow ist einer der Vorreiter der russischen Umweltbewegung. Noch als Abgeordneter im sowjetischen Volkskongress konnte der promovierte Biologe erreichen, dass Geheimdokumente über die Folgen der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl freigegeben wurden.

Herr Jablokow, Sie haben unlängst davor gewarnt, dass die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima die Ausmaße von Tschernobyl noch übertreffen könnte. Was veranlasst Sie zu dieser Annahme?

Alexei Wladimirowitsch Jablokow: Zum einen ist die Gegend um den Atomkomplex von Fukushima weitaus dichter bevölkert, als dies zum Zeitpunkt der dortigen Reaktorkatastrophe in Tschernobyl vor 25 Jahre der Fall war. Das heißt, dass selbst eine geringere radioaktive Kontamination zu mehr Krankheiten führen und eine höhere Mortalitätsrate zur Folge haben wird. Zweitens hat es noch nie zuvor eine solche Havarie zeitgleich in mehreren Reaktoren gegeben. Eben das ist ja aber in Fukushima der Fall. Drittens sind in Japan auch die Lager abgebrannter Brennelemente betroffen. Es gibt bislang keine Gefahrenstudien über die Folgen bei einem Unfall mit diesem Material. Viertens finden sich in zumindest einem der Reaktoren – Reaktor Nummer 4 – sogenannte Mischoxid-Brennelemente mit Uran und Plutonium.

Können wir die Lage zum aktuellen Zeitpunkt überhaupt abschließend beurteilen? Journalisten in Japan und auf internationaler Ebene beklagen sich seit Beginn der Störfälle im Atomkomplex von Fukushima täglich über die mangelhafte Informationspolitik.

Alexei Wladimirowitsch Jablokow: Tatsächlich sind die Informationen mehr als lückenhaft. So haben wir keine Klarheit darüber, ob die Betreiberfirma TEPCO oder die japanische Regierung ihr vollständiges Wissen mit der Öffentlichkeit teilt. Das mag auf der einen Seite daran liegen, dass diejenigen, die das volle Ausmaß der Katastrophe erfassen, eine Panik befürchten. Auf der anderen Seite steht dahinter ein gehöriges Maß an Missachtung der Menschen, die unter den Folgen von Fukushima leiden werden.

So kommt nach und nach immer mehr über die wahren Ausmaße ans Tageslicht. Anfang dieser Woche etwa wurde bekannt, dass binnen einer Woche dreizehn Mal Neutronenstrahlen auf dem Gelände gemessen wurden.

Alexei Wladimirowitsch Jablokow: Solche Neutronenstrahlen (neutron beams) weisen darauf hin, dass im Inneren der havarierten Reaktoren eine spontane und unkontrollierte Kettenreaktion stattgefunden hat. Irgendwo auf dem Gelände von Fukushima hat die Konzentration des Spaltmaterials (Uran oder Plutonium) eine kritische Masse erreicht. Nun ist es wichtig zu wissen, woher die Neutronenstrahlung stammt.

Wenn das Abkühlbecken für abgebrannte Brennelemente betroffen ist, dann ist das eine Sache. Wenn das Problem aber im Reaktorkern selbst läge, dann wäre die Lage sehr viel ernster. Ich denke, dass es derzeit wichtig wäre, Experten aus anderen Ländern nach Japan einreisen zu lassen, damit sie an den Schutzmaßnahmen mitwirken. Vielleicht könnten sie den Ursprung der Strahlung bestimmen und so für einen besseren Schutz und eine Eindämmung der weiter eskalierenden Lage sorgen.

"Radioaktives Jod darf überhaupt nicht im Trinkwasser sein!"

Welche Fragen sind denn offen?

Alexei Wladimirowitsch Jablokow: Warum wird nicht über andere Radionuklide außer Cäsium-137 und Jod-131 berichtet? Ein oder zweimal hat man Kobalt-60 und Cäsium-134 erwähnt. Dies alles ist sehr wichtig, um zu verstehen, was genau in Fukushima passiert. Wenn es Kobalt-60 ist, dann sind es Korrosionsprodukte, nicht aber Brennelementteile. Es überrascht die Ungenauigkeit der Bewertung des Verschmutzungsgrades. Alles das erinnert sehr an die Situation in Tschernobyl und führt womöglich zu einer wesentlich höheren Opferzahl.

Die 35-Millionen-Metropole Tokio liegt nur knapp 250 Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt. Welche Auswirkungen erwarten Sie für die Menschen in der Stadt?

Alexei Wladimirowitsch Jablokow: Sehen Sie, wenn es nun heißt, es gebe keine "unmittelbare Gefahr", dann heißt das doch, dass eine Gefährdung für die Menschen längst anerkannt wird. Wenn sie etwa radioaktiv verseuchtes Wasser trinken. Irgendwann werden sich durch Radioaktivität hervorgerufene Erkrankungen zeigen. Das mag in einem Jahr sein oder in zehn Jahren. Tatsächlich war die Konzentration des radioaktiven Jods im Wasser der Vororte von Tokio recht gering. Aber radioaktives Jod darf überhaupt nicht im Trinkwasser sein! Schon eine beliebig kleine Erhöhung des Strahlengrenzwerts führt unweigerlich zu weiteren Erkrankungen. Nach den Erfahrungen von Tschernobyl kann man davon ausgehen, dass schon geringe Mengen an dem radioaktiven Jod-131 Fehlgeburten, Todgeburten und schwerwiegende Veränderungen des Erbgutes hervorrufen.

Was sollte also getan werden?

Alexei Wladimirowitsch Jablokow: Kinder und schwangere Frauen sollten aus der Region sofort evakuiert werden. Der Evakuierungsradius müsste unmittelbar auf 50 bis 60 Kilometer ausgeweitet werden...

...was ja auch gerade die japanische Atomaufsicht gefordert hat. Aber die Evakuierung von 35 Millionen Menschen allein im Raum Tokio ist doch illusorisch.

Alexei Wladimirowitsch Jablokow: Deswegen sollten sich die Maßnahmen auf die am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen konzentrieren. Im Allgemeinen muss die Bevölkerung mit sauberem Wasser und sauberen Nahrungsmitteln versorgt werden. Die Luft in Tokio und in der Umgebung des Atomkomplexes muss kontinuierlich überwacht werden. Diese täglichen Kontrollen des Grundwassers, des Bodens und der Lebensmittel sind zur Abwehr von Gesundheitsschäden enorm wichtig.

Man muss jeden Menschen im potentiell radioaktiven Gefährdungsgebiet einem täglichen Monitoring unterziehen, um die Aufnahme von Radionukliden zu überwachen. Es muss über Nahrungszusätze nachgedacht werden, die eine Ausscheidung der Radionuklide unterstützen. Man muss die Ausbreitung sogar der mikroskopisch geringsten Mengen von Plutonium verhindern. Die Behörden müssen sich – je nach Windrichtung und Bewegung der Wolken – auf radioaktiven Fallout im Tokioter Stadtgebiet einstellen. Und schließlich sollten die Menschen darüber aufgeklärt werden, wie sie sich und ihre Angehörige schützen können. Die Menschen im betroffenen Gebiet müssen wissen, wie sie mit der Kontamination umgehen sollen, vor allem auf dem Land, wo viele noch auf den Feldern arbeiten.

Wie nach Tschernobyl gibt es auch jetzt keine glaubhaften Berichte über das wahre Risiko

Bei vielen dieser Ratschläge gehen Sie von den Erfahrungen der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl aus, die sich in diesen Tagen zum 25. Mal jährt. Sind die Lehren aus Tschernobyl nicht hinreichend beachtet worden?

Alexei Wladimirowitsch Jablokow: Einige schon, in anderen Fällen ist das leider nicht der Fall.

Welche Defizite sehen Sie?

Alexei Wladimirowitsch Jablokow: Die gesamte Informationspolitik der Verantwortlichen in Privatwirtschaft und Regierung erinnert auf verheerende Weise an die Geschehnisse vor 25 Jahren. Auch in Japan müsste die Bevölkerung heute viel schneller und viel ehrlicher über die Gefahren der Strahlung aufgeklärt werden. Zum zweiten hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) es nicht geschafft, sich von der Macht der Atomwirtschaft zu befreien, um unabhängig und adäquat reagieren zu können. Wie nach Tschernobyl ist es auch in Fukushima nicht möglich, an glaubhafte Berichte über das wahre Risiko zu kommen. So wird es den betroffenen Menschen verwehrt, sich selber um ihre Sicherheit zu kümmern. Wie bei Tschernobyl fehlt auch heute in Fukushima eine unabhängige Überwachungsinstanz für Kernkraftwerke. Vor allem aber wurde die wichtigste Lektion nicht beherzigt: Der Schaden durch eine Reaktorkatastrophe für Menschen und Umwelt kann niemals durch die Gewinne der Atomindustrie wettgemacht werden.

Dennoch hat derzeit die Anti-Atom-Bewegung weltweit Aufwind. Die Menschen in Japan, in Europa und anderen Teilen der Erde fordern immer vehementer Alternativen ein. Erleben wir das "Ende des Atomzeitalters", wie das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel unlängst titelte?

Alexei Wladimirowitsch Jablokow: Ich hoffe inständig, dass die Pläne für die weitere Entwicklung der Kernenergie nun weltweit überdacht werden. Ich hoffe, dass alte Reaktoren stillgelegt und der Bau neuer Atomkraftwerke unterbunden wird.

Die Hoffnung ist das eine. Und welche Prognose haben Sie?

Alexei Wladimirowitsch Jablokow: Meine Prognose ist derzeit, dass es für das Ende des Atomzeitalters und der Atomkraft noch zwei oder drei Fukushimas braucht.

Ebenso wie die US-amerikanische Ärztin und Anti-Atom-Aktivistin Janette D. Sherman haben Sie unlängst die Politik der WHO kritisiert. Sie bleibe derzeit zu passiv. Was erwarten Sie von dieser UNO-Institution?

Alexei Wladimirowitsch Jablokow: Die WHO ist eine internationale Organisation der UNO. Nach Tschernobyl hat die WHO wegen der Verheimlichung des wahren Ausmaßes dieser Tragödie das Vertrauen der Öffentlichkeit im Bereich radioaktiver Sicherheitsfragen verloren. Um dieses Vertrauen wiederherzustellen, muss das Abkommen zwischen der WHO und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) als falsch und gefährlich erkannt und aufkündigt werden.

Diese Vereinbarung wurde Ende Mai 1959 auf der 12. Weltgesundheitsversammlung geschlossen und räumt der IAEA die Hauptverantwortung für atomare Forschung und die Beurteilung der Folgen ein...

Alexei Wladimirowitsch Jablokow: Und eben diese Politik der WHO im Bereich der mit Radioaktivität verbundenen Sicherheitsfragen muss entschieden verändert werden. Anstatt die Atomindustrie vor Kritik zu bewahren, muss die WHO sich für den Schutz der Menschen vor der Atomindustrie einsetzen.