"Der Zusatzbeitrag der Krankenkassen ist der Einstieg in die Kopfpauschale"

Gesundheitsexperte Hartmut Reiners über das Märchen von der Kostenexplosion und den wirklichen Problemen im Gesundheitswesen

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Hartmut Reiners ist einer der erfahrensten deutschen Experten für Gesundheitspolitik. Von 1992 bis 2010 war er im brandenburgischen Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie Referatsleiter für Grundsatzfragen, zuvor in gleicher Position in Nordrhein-Westfalen. Im Februar erschien sein Buch "Krank und pleite?", in dem er die Politik der schwarz-gelben Koalition scharf kritisiert. Die Rede von der "Kostenexplosion im Gesundheitswesen" hält er für ein Märchen. Wir sprachen mit ihm über die wirklichen und die vermeintlichen Probleme des deutschen Gesundheitssystems.

Herr Reiners, eigentlich hatte Gesundheitsminister Philipp Rösler eine ganz große Reform der Krankenversicherung vorgehabt. Sein Plan, die Finanzierung vom bisherigen Beitragssystem auf eine Kopfpauschale mit einem steuerfinanzierten Sozialausgleich umzustellen, war politisch offenbar nicht durchsetzbar. Ist das Schlimmste verhütet worden?

Hartmut Reiners: Der Zusatzbeitrag ist in Wirklichkeit der Einstieg in die Kopfpauschale – und das ist auch das politische Ziel. In seiner jetzigen Form bedeutet der Beitrag einen schleichenden Übergang weg von der Beitragsfinanzierung hin zu einem fixen Betrag für alle Versicherten. Das liegt daran, dass der geplante Sozialausgleich aus dem Gesundheitsfonds finanziert werden soll und nicht, wie Rösler ursprünglich versprochen hatte, über Steuern.

Bekanntlich greift der Sozialausgleich, wenn der Zusatzbeitrag zwei Prozent des Einkommens eines Versicherten übersteigt. Die Beiträge dieses Versicherten sinken dann entsprechend. Aber, und das ist entscheidend: Es fließt nicht mehr Geld in den Gesundheitsfonds, mit dem die Kassen ihre Ausgaben finanzieren! Die Geldsumme, die auf die Kassen verteilt wird, schrumpft tendenziell, und zwar umso mehr, je höher der Sozialausgleich ist.

Das bedeutet wiederum, dass die Krankenkassen gezwungen sein werden, den Zusatzbeitrag immer weiter zu erhöhen; es kommt zu einer Art Wendeltreppeneffekt. Der Zusatzbeitrag wird also für die Finanzierung immer wichtiger werden. Theoretisch bedeutet das den Einstieg in eine Kopfpauschale. Ich sage "theoretisch", weil es sehr wahrscheinlich so sein wird, dass der Gesundheitsfonds mit Steuergeldern aufgestockt werden wird – wenn etwa eine Wahl bevorsteht.

Hat denn die Öffentlichkeit diesen Zusammenhang übersehen?

Hartmut Reiners: Das Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) ist für einen Normalbürger kaum zu verstehen. Und die genannten Probleme werden auch erst spürbar werden, wenn demnächst mehr Kassen den Zusatzbeitrag erheben müssen. Das wird spätestens 2013 der Fall sein. Noch ist der Gesundheitsfonds gut gefüllt, weil der Bund den Steueranteil noch einmal um 2 Milliarden Euro aufgestockt hat. Außerdem hat Minister Rösler versprochen, 2014 "darüber nachzudenken", ob man noch mehr Steuergelder ins System pumpt. Was daraus wird, ist völlig offen.

Wie wird sich Ihrer Ansicht nach der Zusatzbeitrag in Zukunft entwickeln?

Hartmut Reiners: Das ist schwer zu sagen. Dieses Jahr haben die meisten Krankenkassen noch einen komfortablen Haushalt. Die Kassen, die jetzt bereits einen Zusatzbeitrag erheben müssen, leiden an hausgemachten Problemen. Aber 2012, spätestens 2013 wird sich das ändern, weil die Arzneimittelpreise und Ärztehonorare gestiegen sind.

Hartmut Reiners. Bild: H. Reiners

Es wird hierzulande oft kritisiert, dass das Gesundheitssystem immer stärker einer ökonomischen Logik unterworfen würde. Sie sehen das anders: Ökonomisches Denken sei nicht das Problem, sondern dass viele Ökonomen von falschen Grundannahmen ausgehen.

Hartmut Reiners: Ich sage immer, das Gesundheitssystem ist ein Wirtschaftszweig – Punkt. Das Problem ist das abstrakte Modelldenken, die Lehrbuchökonomie, die unter deutschen Wirtschaftswissenschaftlern weit verbreitet ist. Das Gesundheitswesen ist anders als andere Märkte.

Ein entscheidender Unterschied ist, dass dieser Wirtschaftszweig von den Anbietern der Gesundheitsleistungen gesteuert wird. Die Leistungserbringer – also die Ärzte und Krankenhäuser und die Pharmaindustrie – haben einen systematischen Vorteil gegenüber den Nachfragern, den Patienten. Sie sorgen dafür, dass ihre vorhandenen Kapazitäten ausgelastet werden, ohne Rücksicht darauf, ob sie zur Behandlung nötig sind oder nicht. Unter Gesundheitsökonomen ist das übrigens international weitgehend unstrittig. In den deutschen Krankenhäusern werden medizinische Geräte benutzt auf Teufel komm raus, obwohl das in vielen Fällen gar nicht erforderlich ist. Eingriffe in den Herzkranzgefäßen sind hierzulande viel häufiger als in vergleichbaren Ländern, zum Beispiel fast dreimal so häufig wie in den Niederlanden! Das liegt einfach daran, dass die Anreizsysteme falsch sind.

Im Gesundheitssystem gibt es immer Marktversagen, weil die Informationen zwischen den Leistungserbringern und den Leistungsnehmern ungleich verteilt sind. Wenn man seine Entwicklung dem Markt überlässt, überfordert man die Patienten. Und wenn der Staat die Menge der Leistungen nicht begrenzt, schießt sie in die Höhe. Das zeigt sich ja auch daran, dass die Ausgaben der privaten Krankenkassen in den letzten zehn, zwanzig Jahren um 50 Prozent mehr angewachsen sind als die der gesetzlichen – obwohl sie die gesünderen Versicherten haben!

Der mündige Patient ist Kitsch

Sie sprechen von einem grundsätzlichen Informationsungleichgewicht zwischen Medizinern und Kranken. Wo bleibt da der oft bemühte "mündige Patient"? Taugt er denn nicht als Leitbild?

Hartmut Reiners: Der Patient ist ja eigentlich kein Kunde des Arztes, höchstens ein Kunde seiner Krankenversicherung. Seine Kasse kauft die Behandlung von den Leistungserbringern für ihn ein. Das ist auch gut so, denn die Krankenversicherungen haben Möglichkeiten, um die systematischen Vorteile der Anbieter im Gesundheitswesen auszugleichen, in dem sie beispielsweise kollektiv Verträge schließen.

Der "mündige Patient" ist in vieler Hinsicht Kitsch, als Zielorientierung für die ökonomische Steuerung taugt er jedenfalls nicht. Eine international gültige Faustregel besagt, dass 80 Prozent der Gesundheitskosten für 20 Prozent der Patienten ausgegeben werden. Das sind allesamt schwer und chronisch Kranke. Soll ein solcher Patient recherchieren, wo das günstigste Krankenhaus liegt und welche Behandlung für ihn die beste ist? Das ist absurd. Der Gesundheitsmarkt kann nicht wie der Wochenmarkt funktionieren.

Grundsätzlich gilt: Die eigenen Gesundheitschancen sind vom Einzelnen kaum zu beeinflussen, weil sie erstens von der sozialen Lage und zweitens von den genetischen Anlagen bestimmt werden. Wenn der Staat nicht regulierend und umverteilend eingreift, führt das notwendigerweise dazu, dass die Kränkeren mehr bezahlen.

Die Kranken werden überfordert, wenn sie selbst ihre Behandlung planen sollen?

Hartmut Reiners: Es hat für kranke Menschen eine wichtige Entlastungsfunktion, sich dem Sachverstand eines Mediziners anvertrauen zu können. Wenn sich finanzielle Aspekte aufdrängen, wird die Beziehung zwischen Arzt und Patienten gestört. Finanzielle Fragen sollten die Mediziner und die Kassen unter sich ausmachen.

Die Frage, ob das System über den Markt oder öffentlich finanziert werden soll, ist ohnehin historisch erledigt: In allen führenden Industrienationen werden zwischen 75 und 85 Prozent der Gesundheitsaufgaben öffentlich getätigt, selbst in den USA sind es 60 Prozent. Marktmechanismen mögen hie und da berechtigt sein, aber zur Finanzierung des Systems taugen sie nicht.

Ein Blick auf die Statistiken genügt, um festzustellen, dass es keine Kostenexplosion gibt

Sie nennen die "Kostenexplosion im Gesundheitssystem" einen Mythos. Warum?

Hartmut Reiners: Man muss sich zunächst die Frage stellen, warum diese pyrotechnische Metapher überhaupt so populär ist. In jeder anderen Branche wird Wirtschaftswachstum schließlich jubelnd begrüßt. Der Grund dafür ist, dass die Krankenversicherungsausgaben Teil der Lohnkosten sind - und die sind in Deutschland angeblich zu hoch.

Schon seit 40 Jahren wird behauptet, dass die Ausgaben im Gesundheitssystem explodieren würden. Ein Blick auf die Statistiken genügt, um festzustellen, dass das nicht stimmt. Die GKV hat nachweislich seit den 1980er Jahren einen konstanten Anteil zwischen 6 und 6,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Nach 2000 sind die Ausgaben sogar teilweise gesunken. Da explodiert überhaupt nichts! Nur die Beitragssätze, die sind enorm gestiegen.

Warum?

Hartmut Reiners: Die Einnahmen der Krankenkassen sinken, weil nur die unteren und mittleren Einkommmensgruppen entsprechend ihrer Löhne in die GKV einzahlen. Die Reallöhne in Deutschland schrumpfen, und die GKV wird eben zum größten Teil aus den Löhnen finanziert. Es genügt die Kenntnis der Grundrechenarten, um zu erkennen, dass bei sinkenden Einnahmen und gleichbleibenden Ausgaben die Beitragssätze steigen müssen.

Sie gehen davon aus, dass der Gesundheitssektor in Deutschland weiter wachsen wird – auch im Hinblick auf Arbeitsplätze.

Hartmut Reiners: Das stimmt, aber nicht in allen Bereichen. Die Pharmaindustrie und die Medizintechnik sind geprägt von durchrationalisierten Betrieben, in denen Arbeitsplätze abgebaut werden. In der deutschen Pharmaindustrie sind im letzten Jahrzehnt 13-14 Prozent der Arbeitsplätze verloren gegangen. Aber wegen der demographischen Entwicklung wird es einen erheblichen Zuwachs im pflegerischen Bereich geben, besonders an der Schnittstelle von medizinischer Versorgung und sozialer Betreuung. Das sind personalintensive Bereiche. Das Gesundheitssystem ist in erster Linie ein Dienstleistungssektor.

Es ist ein Märchen, dass der medizinische Fortschritt die Behandlung immer teurer macht

Aber sehen Sie nicht auch Rationalisierungstendenzen im pflegerischen, "patientennahen" Bereich – ich denke da etwa an telemedizinische Projekte.

Hartmut Reiners: Das ist richtig, es gibt ein erhebliches Rationalisierungspotential, nicht nur durch Telemedizin. Früher lag man bei einem Eingriff in die Herzkranzgefäße zwei, drei Wochen im Krankenhaus. Heute bleiben Sie eine Nacht zur Überwachung oder der Eingriff findet sogar ambulant statt. Es ist ein Märchen, dass der medizinische Fortschritt die Behandlung immer teurer macht. In Wirklichkeit führt er zu großen Rationalisierungsmöglichkeiten – die aber vielfach gar nicht genutzt werden, weil die alten, eigentlich überflüssigen zusätzlich zu den alten Maßnahmen weiter angewandt werden.

Es ist eine internationale Besonderheit Deutschlands, dass es sowohl private als auch gesetzliche Krankenversicherungen als Vollversicherung gibt. Überall sonst bieten die privaten Versicherungen nur zusätzliche Leistungen an. Nun ist das Geschäftsmodell der deutschen PKV unter Druck. Wagen Sie eine Prognose, was aus ihr wird?

Hartmut Reiners: Wir werden die PKV nur auf Kosten einer immer weiter geschwächten GKV aufrecht erhalten können. Das liegt vor allem daran, dass die Privaten im Wettbewerb um die gesünderen Versicherten immer im Vorteil sind. Ob die Politik das auf Dauer durchhält, bezweifle ich. Durch die Weltwirtschaftskrise gerät außerdem die Finanzierung über Kapitaldeckung , also die Anlage der Versichertenbeiträge auf den Finanzmärkten, zunehmend in Probleme.

Der Kapitalstock der deutschen PKV beträgt gegenwärtig 155 Milliarden. 2008 hatten einige Versicherungen ganz erhebliche Schwierigkeiten mit bestimmten Geldanlagen. Es ist ja kein Geheimnis, dass die Bundesregierung die Hypo Real Estate auch deswegen gestützt hat, weil viele Versicherungen dort sehr viel Geld angelegt hatten. Allerdings gibt es da deutliche Unterschiede zwischen den Anbietern. Die frei-gemeinnützigen privaten Krankenversicherungen waren in der Geldanlage sehr viel vorsichtiger als so manche Aktiengesellschaft.

Es wird geschätzt, dass im Jahr 2007 27 Prozent der Kassenpatienten so genannte Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) in Anspruch genommen haben, die zusammen etwa eine Milliarde Euro gekostet haben. Behandlungen, die nicht von den Kassen bezahlt werden, sind mittlerweile für viele Ärzte eine wichtige Einnahmequelle geworden. Sie halten trotzdem wenig von diesen Gesundheitsleistungen – warum?

Hartmut Reiners: Es gibt Behandlungen, bei denen man geteilter Meinung sein kann, ob sie nicht doch von der GKV bezahlt werden sollten. Konkretes Beispiel: eine Augenhinterdruckmessung wird nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen erstattet. Aber bei Patienten über 50 Jahren kann diese Messung ein wichtiger Hinweis sein, ob etwa eine Diabetes im Anmarsch oder der Blutdruck zu hoch ist. Über so etwas kann man streiten!

Im Großen und Ganzen aber sind die IGeL-Behandlungen überflüssig oder sogar schädlich. Die Krankenkassen zahlen, was medizinisch notwendig ist und "das Maß des Notwendigen nicht überschreitet", wie es im Sozialgesetzbuch heißt. Was das ist, wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen festgelegt. Der IGeL-Katalog enthält Behandlungen, die zum überwiegenden Teil ihren medizinischen Nutzen, ihre Sinnhaftigkeit, nicht nachweisen können. Und was medizinisch nicht sinnvoll ist, das ist, um es salopp auszudrücken, Körperverletzung. Wenn ein Arzt Leistungen verkauft, die medizinisch nicht notwendig sind, ist das ethisch ausgesprochen fragwürdig.

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