"Neue Blasen stehen vor der Tür"

Roland Benedikter über kulturelle Grundlagen und Perspektiven der Finanzkrise 2007-10

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Ihr neues Buch "Social Banking and Social Finance: Answers to the Economic Crisis"1) stellt in den ersten 3 Teilen die Ursachen der Finanzkrise als Zusammenwirken zweier Spekulationsblasen: der Derivate- und der Immobilienblase dar - also des Abdriftens großer Teile des volkswirtschaftlich verfügbaren Kapitals seit 1989 in zwei an sich unproduktive "Parasitär-Wirtschaften". Diese standen spätestens ab einem bestimmen Punkt im Jahr 2007 in keinem Verhältnis mehr zur Realwirtschaft, was schliesslich zum Zusammenbruch führte. In den weiteren 11 Teilen des Buches geben Sie Hinweise, wie eine solche Krise in Zukunft verhindert werden kann. Im Kern geht es darum, dass Kapital nachhaltiger in der Realwirtschaft statt in den spekulativen Bereichen von "Phantasiewirtschaften" eingesetzt wird.

Roland Benedikter: Ja. Die "Phantasiewirtschaften" - oder "Parasitär-Wirtschaften"2, wie ich sie in der Tat lieber nennen würde, weil das ihnen zugrundeliegende Gebahren weniger mit Phantasie, als vielmehr mit Gier zu tun hatte - wuchsen zwischen 1989 und 2007 nicht linear, sondern exponentiell. Sie verfünffachten sich allein zwischen 2002 und 2006 und betrugen 2007 516 Billionen (trillion) $ allein in einer der beiden Blasen, der Derivate-Blase: Kapital, das ohne Nachhaltigkeit nur auf der Suche nach schnellen Profiten wie ein riesiger Geier über der Erde kreiste, und dabei gleichsam der Realwirtschaft entzogen wurde. Ähnliche Summen werden für den Immobilienbereich kolportiert, der genau wie der Derivate-Bereich ja im Grunde nichts oder nur sehr wenig produziert, sondern dasjenige, was bereits vorhanden ist, durch Spekulation immer neu bewertet. Im Vergleich: Das gesamte Bruttosozialprodukt aller Staaten der Erde zusammen betrug 2008 50 Billionen (trillion) $ (etwa 15 Billionen $ davon sind der Anteil der USA), der US-Staatshaushalt 3 Billionen (trillion) $. Daran können sie die riesigen Ausmaße der Verzerrung erkennen, die zur Finanz- und Wirtschaftskrise führten.

Was bedeutet das?

Roland Benedikter: Die Derivate-Blase bildete einen riesigen, von der Erde abgehobenen Schirm "jenseits" der Realität; die Immobilienblase dagegen staute umgekehrt das Geld in Grund und Boden hinein, als "unterhalb" der Realität. Beide waren unproduktiv und nährten sich von "Mittelerde", vom Bereich der real arbeitenden Menschen: der Realwirtschaft. Und beide wirkten zusammen, stärkten sich gegenseitig - auf Kosten der Realwirtschaft. Immer größere Teile des weltweit verfügbaren Kapitals arbeiteten nicht mehr, sondern spekulierten auf reale Arbeit.

Vergessen wir nicht, dass die riesigen Spekulationssummen von zusammengenommen zuletzt vermutlich mehr als 1000 Billionen (trillion) $ unter den neoliberalen Bedingungen zwischen 1989 und 2007 mehrheitlich aus bloßen Wetten auf reale sozio-ökonomische Entwicklungen bestanden - 2007 im geradezu unglaublichen Verhältnis von (wenigstens) 1:20 zur Realwirtschaft, also einem Teil Realwirtschaft und 20 Teilen Spekulation auf deren Entwicklung! Das sind allerdings nur die vorsichtigsten Schätzungen. Manche Analytiker gehen für das Jahr 2007 von einem Gesamtverhältnis zwischen Realwirtschaft und den zwei Parasitär-Wirtschaften von 1:50 aus. Das Feld ist bislang erst anfänglich erforscht, da aufgrund der großen Komplexität der beiden Parasitär-Wirtschaften viele Statistiken und Zahlen erst erarbeitet werden müssen.

1. Globale Verschiebung am Überschneidungspunkt zwischen Wirtschaft und Politik

Dazu liefern Sie in Ihrem Buch einen bislang so nicht vorhandenen Überblick über die wichtigsten aktuell verfügbaren Zahlen. Darauf aufbauend zeichnen sie das Gegenbild eines im 21. Jahrhundert möglichen "finanziellen Humanismus", eines (analog zu "Greenpeace") "Financepeace" und einer "Befreiungsfinanz". Zu den Möglichkeiten von "best practice" Beispielen für einen essentielleren, seiner Natur nach angemesseneren Gebrauch von Kapital gehört Ihrer Meinung nach ein soziales Bank- und Finanzwesen, wie es in Deutschland zum Beispiel die GLS Bank Bochum oder die Triodos Bank repräsentieren. Dazu gehören aber auch regulative Maßnahmen für den globalisierten Banken- und Finanzsektor. Was halten Sie von den Maßnahmen, die unter dem Eindruck der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007-2010 bis heute von der internationalen Staatengemeinschaft getroffen wurden?

Roland Benedikter

Roland Benedikter: Darf ich Ihre Frage gleich am Beginn um einen Aspekt ergänzen, ohne den sie meines Erachtens weder qualitativ noch quantitativ angemessen zu beantworten ist?

Gerne.

Roland Benedikter: Es ist zunächst wichtig zu sehen, dass die meisten regulativen Maßnahmen bisher vor allem von der angloamerikanischen Welt, darunter führend der USA, und Europa ausgehen, und sich mehrheitlich leider auch auf sie beschränken. Neue "global players" wie etwa China stiegen aus der Findung gemeinsamer Strategien relativ früh aus. Sie unterliefen tiefergehende globale Strukturmaßnahmen eigentlich von Anfang an, und unterlaufen sie weiterhin - und zwar in eigenem Interesse. China benutzt seine riesigen Devisenreserven seit einigen Jahren ganz systematisch dazu, mittels zu 100% in Staatsbesitz befindlicher Banken, die aber wie internationale Privatgroßbanken funktionieren und handeln, weltweit strategische Ressourcen, Rohmaterialreserven, Technologien und Know-how aufzukaufen und sich dabei geopolitisch in zukunftsrelevanten Einflußsphären festzusetzen.

Die chinesischen Milliardeninvestitionen in kriselnde europäische Volkswirtschaften wie Griechenland, Portugal oder Irland3 oder der seit dem dritten Quartal 2010 erneut massenhafte Aufkauf von amerikanischen Staatsanleihen im Umfang von mehr als 23 Milliarden $4 sind dafür, wie die kommenden Monate und Jahre zeigen werden, nur Seitenmaßnahmen, um für Chinas finanz- und kapitalpolitische Expansion mittels Investitionen etwa in Afrika Stabilität mittels Abhängigkeit zu schaffen. In dieses Gesamtbild gehörte zum Beispiel im Februar 2011 auch der Griff der China Development Bank nach der durch die Krise angeschlagenen deutschen WestLB mit 13 Milliarden $5, aber auch die Tatsache, dass China während (und zum Teil als direkte Folge) der Krisenjahre die Weltbank als Kreditgeber für Entwicklungs- und Schwellenländer überholt hat.6

Was geht hier vor?

Roland Benedikter: Insgesamt sehen wir: China stößt nun finanzpolitisch in die Lücken, die die Finanz- und Wirtschaftskrise 2007-10 in die politische Vorherrschaft des Westens gerissen hat. Es versucht, diese Lücken mittels massiver Finanzspritzen strategisch in langfristiger Perspektive für sich zu nutzen. Die Schaffung von Stabilität mittels eines Netzes von Abhängigkeiten war in der chinesischen Geschichte stets eine wichtige Strategie - nicht zuletzt mit finanziellen Mitteln.7 Von Umgang mit Geld im Sinn einer global nachhaltigkeitsorientierten Finanzwirtschaft ist bei alledem natürlich keine Spur, da die gegenwärtige chinesische Führung davon ausgeht, dass ihre Maßnahmen im Sinne eines "kapitalnutzenden Kommunismus" ohnehin bereits das größere Gut Chinas befördern, und damit die größte "Gemeinschaft" der Erde bedienen.8 Mit - so hoffen die autoritären Machthaber - ihren Einflussbereich stärkenden und erweiternden Auswirkungen.

Das bedeutet?

Roland Benedikter: Das bedeutet: Eine bessere Regulierung und internationale Eindämmung der in den neoliberalen Bush-Ären (Vater und Sohn) von den USA aus - mit zumindest passiver Unterstützung Europas - weitestgehend deregulierten internationalen Finanzströme ist heute macht- und wirtschaftspolitisch gesehen inzwischen nicht mehr im Interesse Chinas, wohl aber des Westens. Eine symptomatische Umkehrung der Verhältnisse. Wenn nicht gar eine Ironie der Geschichte.

...mit massiven globalpolitischen Implikationen!

Roland Benedikter: Ja. Denn vor allem die Amerikaner sind nun hin- und hergerissen. Im Rahmen der alten Strategien globaler Machtpolitik mittels der neoliberalen laissez-faire Finanz- und Wirtschaftspolitik erweiterten private "global players" westliche Einflußsphären auf andere Gebiete hinaus, indem sie ganze Branchen von Volkswirtschaften aufkauften (wie zum Beispiel die Immobilienbranche in Thailand 1998/99-20009). Sollen die USA diese Strategien nun nach der Finanzkrise wieder hochfahren, wie von Wall Street gefordert, um China nicht das Feld globaler Expansion mit (legalen) ökonomischen Mitteln zu überlassen? Das würde bedeuten, zu den alten Spielen eines globalen Raubtierkapitalismus zurückzukehren, um die Vorherrschaft des Westens zu sichern, solange es eben noch geht.10 Oder soll Amerika die Obama-Reformen weiterführen und auf eine stärkere multilaterale Regulierung des internationalen Finanzsektors drängen, wenn auch möglicherweise nur gemeinsam mit Europa und der angelsächsischen Welt?

Die kollidierenden Interessen zwischen den zwei voraussichtlich größten und einflußreichsten Nationen der Welt des 21. Jahrhunderts, der nicht zufällig immer öfter bereits "G-2" getauften11 China und USA, finden in den kommenden Jahrzehnten vermutlich in den Finanz- und Wirtschaftspolitiken einen wichtigeren Austragungsort als in den Macht- und Militärpolitiken, weil letztere aufgrund des Rüstungsniveaus inzwischen beider Mächte zu gefährlich sind und zu offener Konfrontation führen würden.12 Diese Hintergründe, die stark in geopolitischen Strategien verankert sind, erklären, warum die von Obama, Merkel, Sarkozy und Co. angestrebten Reformen des Banken- und Finanzsektors vor allem in den USA bei den Eliten auf so gemischte Gefühle stoßen und nicht wirklich weiterkommen. Das ist auch deshalb so, weil man aus globalpolitischen Gründen nicht sicher ist, ob man sich damit nicht selbst ins Fleisch schneidet.13

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