Militarisierung des Mittelmeers

Die EU-Grenze wird hochgerüstet, ihre Grenzpolizei Frontex zentrales Lagezentrum. Derweil soll deren Gesetzesgrundlage nicht mit Menschenrechten "überfrachtet" werden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Trotz Tausenden von Toten beim Versuch, in den letzten Jahren übers Meer in die EU zu migrieren, bauen die EU-Mitgliedsstaaten ihre Grenzpolizei Frontex weiter aus. Ab 2013 soll ein zivil-militärisches Grenzsicherungssystem die Migration weiter erschweren. Ein stärkerer Verweis auf Menschenrechte, den das Europäische Parlament für den Entwurf einer neuen Frontex-Verordnung gefordert hatte, wird aus dem Dokument regelrecht herausgekürzt.

Noch unter ungarischer Präsidentschaft will die Europäische Union die Verordnung für die EU-Grenzschutztruppe Frontex erneuern (Europas Borderline). Trotz der 103 Änderungswünsche des Europäischen Parlaments gibt sich die Kommission laut einem Telepolis vorliegenden Papier optimistisch, Anfang Mai im zuständigen Innenausschuss einen Konsens herbei zu führen. Am 18. April soll hierfür ein sogenannter "Trilog" stattfinden, um Regelungen zum Datenschutz, dem Kauf bzw. Leasing von Ausrüstungsgegenständen für Frontex sowie die Erweiterung der Aufgaben der Agentur auf eine Unterstützung "freiwilliger Rückkehr" zu diskutieren.

Strittig ist die Einrichtung eines "Advisory Board für Menschenrechte", das von der deutschen Bundesregierung abgelehnt wird, da hierfür auf EU-Ebene bereits ausreichend Instrumente zur Verfügung stünden. Demgegenüber soll Frontex seine "Risikoanalyse" stetig ausbauen und neue proaktive Aufklärungskapazitäten entwickeln. Die Agentur mit Sitz in Warschau erstellt regelmäßig Szenarien zu "Migrationsrisiken" und berechnet das höchste "Migrationsrisiko".

Mehr Geld für "Nationale Experten"

Frontex soll zukünftig Personal für einen Zeitraum von bis zu einem Jahr ausgeliehen werden, die dort als "nationale Experten" geführt werden. Unklar ist noch die Kostenübernahme, was ebenso für überlassenes technisches Gerät der Mitgliedsstaaten gilt. Wegen der zahlreichen neu an Land gezogenen "Missionen" ist jetzt die Finanzierung des Frontex-Haushalts unklar, allein bis zur Sommerpause hat die Agentur bereits das Doppelte des Jahreshaushaltes ausgegeben. Vermutlich wird die Kommission deshalb 30 Millionen Euro zur Verfügung stellen.

Zur neuen Verordnung wird diskutiert, dass Frontex bald auch Grenzkontrollen in Häfen des Schengen-Raums durchführen könnte. Damit würden die innerhalb des Schengen-Raums abgeschafften Grenzkontrollen wieder eingeführt und zudem von einer zentralisierten Behörde übernommen, was einen Verstoß gegen den Schengener Grenzkodex darstellen dürfte.

Die EU-Grenzpolizei will zudem zukünftig personenbezogenen Daten speichern und verarbeiten, was mit einer "Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität und des Menschenhandels" begründet wird. Im Frontex-Sprech sind hiermit sogenannte "Schleuserbanden" gemeint. Auch Daten von "Opfern", also von den einreisenden Migranten, sollen prozessiert werden. Die deutsche Delegation will anscheinend nur ihre Zustimmung für die Speicherung von "Rückführungen" geben, also ein Register von Abgeschobenen anlegen.

Nicht nur damit kommt Frontex der Polizeiagentur Europol ins Gehege. Mehrere Mitgliedsstaaten sind der Ansicht, dass die "operativ-fallbezogene Auswertung" zur Strafverfolgung weiter von Europol übernommen werden solle. Hierfür sollen die beteiligten Mitgliedsstaaten die Agentur in Den Haag mit den entsprechenden personenbezogenen Daten beliefern. Im neuen Verordnungsentwurf ist vorgesehen, dass Frontex den Datentransfer koordinieren würde.

Fraglich ist, wozu neben der Fingerabdruckdatenbank (EURODAC), dem Schengener Informationssystem (SIS) und den Datensammlungen der Polizeiagentur Europol eine neue EU-Datenhalde entstehen soll. Auch die Visumsdatenbank (VIS) soll spätestens ab dem 11. Oktober in Betrieb genommen werden, sofern die hierfür abgestimmten Verträge mit den Regierungen Nordafrikas nicht außer Kraft gesetzt werden.

Erster Einsatz von "Rapid Border Intervention Teams" an Seegrenze

Die gegenwärtig vor Malta im Mittelmeer praktizierte Operation "Hermes", am Rande derer diese Woche Hunderte Migranten ertranken, galt bislang als erfolgreich. Italiens Innenminister Roberto Maroni hat Malta jetzt die Schuld für den Tod auf der Überfahrt gegeben, obwohl die Operation "Hermes" unter Leitung Italiens steht. Zuvor hatte Maroni selbst die Situation dramatisiert, gegenüber Tunesien "zwangsweise Heimatrückführungen" angedroht und die Angekommenen mit Spezialeinheiten aller Polizeien "empfangen" – darunter auch eine Antiterroreinheit der Guardia di Finanza.

Erweitert bis zum 20. August wurden von den zehn beteiligten Mitgliedsstaaten innerhalb von "Hermes" bislang rund 2.700 Migranten gefangen. Viele der auf der Insel Lampedusa Angekommenen werden aufs italienische Festland verschifft, wo sie auf Lager mit einer Kapazität von 11.000 Plätzen verteilt werden können. Dort werden sogenannte "Screening Centres" installiert, die Flüchtlinge auf Herkunft, Fluchthelfer und Migrationsrouten aushorchen. Bisher haben 4.000 Migranten in Italien Asyl beantragt, in allen hierzu abgeschlossenen Verfahren wurden die Anträge abgelehnt.

Bald sollen "Rapid Border Intervention Teams" (RABIT), die bis vor Kurzem in Griechenland erstmals eingesetzt wurden, in Malta ihren ersten Einsatz an einer Seegrenze durchführen. Anscheinend haben die EU-Mitgliedsstaaten bereits ein entsprechendes Ersuchen von Frontex erhalten, allerdings bislang größtenteils keine Zusagen erteilt. Deutschland hat den Einsatz zweier Hubschrauber inklusive Besatzung angeboten, die derzeit nicht, wie angedacht, für die Operation "Hermes" genutzt werden. Auch zwei "Screener", also befragende Grenzpolizisten, wurden in Aussicht gestellt.

Europol ist in der Regel in alle größeren Frontex-Missionen eingebunden und auch derzeit mit einem "Mobile Office" in Malta präsent, um einen ungehinderten Zugang zu seinen umfangreichen Datenbanken zu garantieren. Einer der eingesetzten Analysten ist Mitglied von Europols Dossier-Sammlung "Checkpoint" zur Bekämpfung von "Schlepperbanden".

Hochgerüstete Land- und Seegrenze

Gleichzeitig zur Erweiterung der Kompetenzen für Frontex bastelt die Europäische Union am Grenzüberwachungssystem Eurosur, das ab 2013 operativ sein soll und alle Grenzbehörden der Mitgliedsstaaten miteinander vernetzt. Das Aufklärungs- und Kommunikationssystem ist dezentral angelegt und verbindet "Nationale Koordinierungszentren" von zunächst 15 Mitgliedsstaaten. Frontex in Warschau fungiert als Hauptlagezentrum. Auch militärische Einrichtungen, etwa zur Überwachung des Mittelmeers, sind integriert. 2011 will die Kommission einen Richtlinienvorschlag für "Eurosur" präsentieren.

Seit Jahren beforschen zahlreiche Programme, wie die sogenannten "Sensoren", Hardware und Netzwerksysteme der Mitgliedsstaaten für "Eurosur" aufeinander abgestimmt werden können. Mehrere Testläufe und zwei Machbarkeitsstudien wurden bereits realisiert. Im November 2010 hat Frontex einen Vertrag zur technischen Umsetzung eines weiteren Pilotprojekts vergeben.

In die zukünftige hochgerüstete Migrationsabwehr sind auch Staaten außerhalb der EU eingebunden, wie es etwa bereits jetzt im Projekt SEAHORSE vorweg genommen wird. Spanien und Portugal bringen Erfahrungen und Infrastruktur ihres jahrelang gewachsenen SIVE-Projekts ein. Beteiligt sind Mauretanien, Senegal, die Kap Verde, Gambia, Guinea Bissau und Marokko. Auch Überwachungsinfrastruktur in Senegal und Tunesien soll genutzt werden. Besonderes Augenmerk liegt in der Integration des EU-Vorhabens Global Monitoring of Environment and Security (GMES), das EU-Satellitenaufklärung, Überwachungssensoren, Drohnen und Radar miteinander verzahnt. Weitere Projekte, die Anwendungen für "Eurosur" vorbereiten und von der Kommission mit Dutzenden Millionen Euro finanziert werden, sind etwa:

  • "Autonomous MAritime Surveillance System" (AMASS) entwickelt automatisierte, unbemannte "Überwachungsplattformen"
  • "An interoperable approach to EU maritime security management" (OPERAMAR) erforscht die Interoperabilität nationaler Projekte maritimer Sicherheit
  • "Transportable autonomous patrol for land border surveillance" (TALOS) entwickelt unbemannte Landroboter;
  • "Wide maritime area airborne surveillance" (WIMASS) vernetzt Drohnen
  • "OPen ARchitecture for Unmanned Aerial Vehicle-based Surveillance system" (OPARUS) entwickelt eine offene Softwarearchitektur für die Land- und Flugroboter
  • "Sea border surveillance" (SEABILLA) versucht alle Vorhaben im All, in der Luft, auf dem Land, auf dem Meer miteinander technisch zu verzahnen
  • "Integrated System for interoperable sensors and information sources for common abnormal vessel behaviour detection and collaborative identification of threat" (I2C) erforscht die Nutzung von Positionierungssignalen für die Erkennung "verdächtiger" Schiffe.

Zuletzt war mit "Protection of European seas and borders through the intelligent use of surveillance" (PERSEUS) ein Projekt unter der Leitung der spanischen Guardia Civil und dem Rüstungsunternehmen INDRA gestartet, das die Möglichkeit der Einbindung existierender Systeme in die Meeresüberwachung untersucht. Auch Kapazitäten der NATO sollen integriert werden.

Die totale Kontrolle des Mittelmeers dürfte damit die Erfolgsmeldung des ersten Abschnitts des Grenzschutzsystems "Eurosur" bilden. Hierfür sollen bereits jetzt Dienste der Satellitenaufklärung von GMES genutzt werden. Bis zur nächsten Etappe 2013 sind die Mitgliedsstaaten angehalten, ihre "nationalen Koordinierungszentren" zu errichten. Mit sechs Mitgliedsstaaten will Frontex noch 2011 in einem Pilotprojekt das Zusammenwirken erproben und den Test Ende des Jahres auf sechs weitere Länder ausdehnen. Dann soll auch der Aufgabenbereich von Frontex schrittweise auf andere "Bedrohungen" erweitert werden.

An der Erwähnung von Menschenrechten wird gespart

Während Frontex nach innen militarisiert wird, soll die Behörde nach außen Menschlichkeit demonstrieren. Frontex-Chef Ilkka Laitinen sorgt sich um schlechte Presse bei "Rückführungsmaßnahmen" und weist in dem Telepolis vorliegenden Ratsdokument darauf hin, dass die Agentur "auf die größtmögliche Akzeptanz in der Öffentlichkeit angewiesen" ist.

Frontex kam ins Gerede, als bekannt wurde dass die Agentur Migranten auf offener See "zur Umkehr überredet". Mit Libyen hatte die EU Verhandlungen über Abschiebungen begonnen, die währenddessen von Italien übernommen wurden. Frontex hatte die Situation zuvor mit einer düsteren "Risikoanalyse" angeheizt und ging vom Szenario aus, dass Ghaddafi im Amt bleibt und die neuen Regierungen in Ägypten oder Tunesien ihre Bevölkerung weiterhin zur Flucht nötigen.

Im Gegensatz zu Tunesien kommt die neue ägyptische Regierung den EU-Grenzbehörden diskret entgegen, die "Rückführungen" werden anscheinend problemlos fortgesetzt. Erst ein Besuch von Italiens Noch-Premierminister Silvio Berlusconi brachte mit der Zahlung von 300 Millionen Euro die Zusage, dass auch Tunesien zukünftig Ausgereiste zurück nimmt – 35 Millionen gehen vorsichtshalber in den Aufbau eines Radarsystems für die Küstenwache.

Die EU-Abgeordneten hatten für die neue Frontex-Verordnung vorausschauend gefordert, an mehreren Stellen auf die Priorität der Einhaltung der Menschenrechte hinzuweisen. Das wird von den meisten Mitgliedsstaaten rundherum abgelehnt, weil es angeblich "den Verordnungstext unverhältnismäßig überfrachtet". Auch die deutsche Delegation in Brüssel sieht hierfür keine Notwendigkeit.