Matrix statt Marx

Gefangen im neoliberalen Gedankennetz - wie zwei klugen Leuten zu Marx wieder einmal nichts einfiel

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Marx macht mobil? Das war einmal. Und ist vielleicht wieder. Aber noch lange nicht im braven Deutschland. Marx, in anderen Ländern längst wiederentdeckt als Stichwortgeber zeitgenössischer Diskurse und Theorien zur Interpretation wie Veränderung der Wirklichkeit, scheint deutschen Politik-Professoren nach wie vor nicht weiter wichtig und keinesfalls für irgendwelche interessanten Gedanken zu taugen. Zu diesem Schluss musste kommen, wer eine Berliner Diskussion zur Aktualität des Marxschen Denkens besuchte. Anlaß: Der Film "Marx reloaded" des britischen Philosophen Jason Barker, der kommende Woche auf arte gezeigt wird.

Auschnitt aus dem Trailer

Es könnte so einfach sein: Man lese Marx, und schon haben wir verstanden, was es mit der Finanzkrise auf sich hat, was in China passiert, was Stuttgart 21 mit den arabischen Aufständen verbindet, und wie wir aus dem "Deep Shit" (Slavoj Zizek), in dem wir uns befinden, herauskommen. Offenbar ist es aber nicht so einfach.

Diesen Eindruck musste zumindest haben, wer jetzt in der Berliner Volksbühne die von den Filmemachern und der Politik-Zeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik" organisierte Veranstaltung "Marx reloaded" besuchte. Dort diskutierten Micha Brumlik und Herfried Münkler, beide ausgewiesene Experten für Politische Theorie im Allgemeinen und Marx im Besonderen, über die Bedeutung des Denkers heute und die Thesen ihrer internationalen Kollegen im Film, in dem unter anderem Nina Power, Jacques Rancière, Peter Sloterdijk, Slavoj Zizek, Michael Hardt, Antonio Negri zu Wort kommen.

Es war ein spannender und fruchtbarer Gedankenaustausch, der aber neben vielem anderen doch eine überraschende Phantasiearmut und Ratlosigkeit wiederspiegelte.

Es geht nicht um Gier

Dabei begann alles mit Analysen: "Es geht nicht um Gier", sagte Micha Brumlik:

Das ist nicht das Problem. Es ist eine bestimmte soziale Struktur, die das mit einer bestimmten Notwendigkeit aus sich heraustreibt. Und die politische Frage ist, wie man das moderieren kann - sowohl innerhalb der Nationalstaaten, als auch in der globalisierten Welt.

Münkler versuchte zwischen der "echten" Ausbeutung, etwa in den Blue-Jeans-Fabriken Lateinamerikas und den Lohnforderungen deutscher Gewerkschaften zu differenzieren und lobte das Potential des Denkers Marx, eine "präzise Analytik der Strukturen" des Kapitalismus zu leisten. Die Durchdringung des Warenfetischs solle die, die vorher in seinem Bann stehen, dazu bringen, Empörung aufzubringen, die revolutionäres Potential erzeuge. Offenbar ist das aber für Münkler heute nicht mehr leistbar - weder von Marx, noch von anderen.

Das ist getragen von einem zutiefst intellektuellen Vertrauen in die aufklärende Kraft der Kritik. Ich glaube nicht, dass wir das heute so ohne weiteres teilen können, nach 150 Jahren Erfahrung mit der Welt.

Mag sein. Aber warum eigentlich? Und wie kann man das ändern? Woran müsste ein Marx-Reload denn heute ansetzen? Möglicherweise an den Bewußtseinsmanipulationen durch die Unterhaltungsindustrie? Das wären Fragen gewesen, an denen die Diskussion hätte beginnen können. Stattdessen wurde weiter die geistige Situation der Bundesrepubik sondiert: "Es gibt nicht mehr das Proletariat" (Moderator Albrecht von Lucke). "Es gibt auch nicht mehr die Bourgoisie" (Münkler), stattdessen wähle das neue Bürgertum Grün. "Es hat ein schlechtes Gewissen. Das ist nicht mehr die neue selbstbewußte durchsetzungsfähige Bourgoisie des 19. Jahrhunderts, die kraftvoll in die Welt hineingetretenen ist" (Münkler). Ist das nun ein Erfolg von 150 Jahren Marxismus?

Ausschnitt aus dem Trailer

Das Blubbern der Multitude

Interessanter ist die Frage nach den potentiellen Akteuren, den möglichen revolutionären Massen: Man verwies auf die verzweifelten und fruchtlosen semantischen Bemühungen, nach dem Verschwinden des Proletariats Ersatzbegriffe für es zu finden, wie "Prekariat" oder ähnliches... "Es ist ja interessant," meinte Münkler, "das Hardt/Negri von 'Multitude' sprechen, also zurückgehen auf den Begriff der Menge bei Spinoza, weit hinter Marx. Irgendwie eine handlungsfähige Gruppe, aber diffus handlungsfähig, nicht mehr das Zielgerichtete."

"Dieser ganze Diskurs der Neoleninisten", so Brumlik, laufe auf die Frage hinaus: Wie könne man diese Kräfte zu einer politischen Partei bündeln. Das sei "nostalgische Sehnsucht nach Zeiten, die wahrscheinlich unwideruflich vorüber sind." Die revolutionäre Partei im leninistischen Stil der Zukunft gebe es nicht. Außer in Form sektiererischer Kleinstparteien. "Die Multitude ist so etwas wie ein Blubbern", so Brumlik weiter. Das sei von Hardt/Negri richtig beobachtet:

Da gibt es hier ein Aufbegehren, dann gibt es dort einen Streik, hier Protest und anderes mehr, und das kann dann doch zu subtantiellen Veränderungen führen.

Hört man dann allerdings, dass Brumlik hierunter "in den überschaubaren Verhältnissen unseres Landes" Stuttgart 21 und die Landtagswahlen von Baden-Württemberg versteht, fragt man sich doch, was das denn bedeuten soll. Schließlich ist "Stuttgart 21" eher ein Beispiel dafür, wie das Blubbern nach dem letzten Blubb zu gar nichts führt.

Das Komplexitätswuchern, das mühselige Eindringen in faktische oder vermeintliche Sachzwänge, in von Technokraten ausgearbeitete "Notwendigkeiten" erfordert nicht nur ungeheuer viel Zeit, es vernichtet auch alle Stoßkraft - in der Schlichtung werden klare Ja-Nein-Alternativen im diffusen "Ja, aber"/ "Nein, aber" aufgelöst. Politik wird zum Faktencheck à la Plasberg.

Auschnitt aus dem Trailer

In diesem Sinn ist der ganze Schlichtungsbetrieb im Fall von "Stuttgart 21" das Gegenteil von Politik. Eine Form von Komplexitäts-Steigerung bis zur vorhersehbaren - und beabsichtigten - Ermüdung des Publikums. Diese Komplexitäts-Steigerung hat den allgemeinen Politisierungsprozess, der "Stuttgart 21" für ein paar Wochen bedeutet hat, schaumgebremst und schließlich in sein Gegenteil verkehrt - die Landtagswahlen wären ohne das Beben von Japan von Schwarz-Gelb gewonnen worden.

Ist das Rauchverbot kommunistisch?

Marx verstand unter Theorie das Aufklären der diffusen Akteure darüber, wer sie sind, und wohin sie eigentlich wollen. Herfried Münkler hat darauf nur ein zögernd-fatalistisches "Das können wir uns, glaube ich, heute so nicht mehr vorstellen." Aber ist dies nicht nur Phantasiemangel jener Intellektuellen, die genau solche Aufklärung heute eigentlich selber leisten müssten?

Münkler hat zwar recht: "Marx hatte einen sehr genauen Blick dafür, dass nicht alle Formen des Aufbegehrens revolutionär sind." Aber wenn er dann selbst einräumt, dass man mit dem frühen Marx, der die Pariser Neureichen beschreibt, die unendliche Schulden gemacht haben, dann den Staat in Besitz nehmen und kapern, um sich selbst zu entschulden genau die Banken erkennen könne, die während der Finanzkrise den Staat an ihrer Stelle bürgen lassen - "Die Gesellschaft des Verbrechens - das sind ganz bestimmte Banken von heute" - dann ist dies der Punkt, wo man Marx sehr wohl reloaden könnte, statt zu resignieren.

Oder schlimmer noch, wie Münkler, den abgedroschensten Werbesong des Neoliberalismus zu singen - an den er selbst nicht ernsthaft glaubt:

Galbraith sagt, es gebe Bedürfnisse, die sind von Außen erfunden. Aspirationsbedürfnisse. Aber bitte: Wer entscheidet das denn? Dann sind wir wieder bei einer politischen Führung, die sagt: Wir limitieren das mal...

Ist denn das EU-Rauchverbot kommunistisch? Oder die Hartz IV-Gesetze? Oder die Schulpflicht? Fortwährend limitieren alle Regierungen dieser Welt bestimmte Bedürfnisse zugunsten anderer. Nur die Bedürfnisse zu bestimmtem Konsum dürfen dann im Namen der Freiheit nicht beschränkt werden - weil das der Wirtschaft schadet. Stattdessen gilt: Nicht jeder Chinese wird sich ein Leben erlauben können wie jener Art, das sich jeder Amerikaner hat erlauben können, weil das die Grenzen der Verfügbarkeit von Energie überschreiten würde.

Ausschnitt aus dem Trailer

Immerhin Brumlik wagte das schöne Wort von der "politischen Bedürfnisregulierung" und verwies auf sein Misstrauen gegen Diktatur der Bedürfnisse.

Vielleicht sollte Münkler mal in seiner Dissertation über Machiavelli nachlesen oder seinen eigenen Texten zu Hobbes, um sich zu erinnern, dass die Matrix der herrschenden Verhältnisse keineswegs gottgegeben ist, sondern Ürprodukt politischer Entscheidungen. Napoleon wusste es noch: "Politik ist das Schicksal."

Die Mär von Wirtschaft als Schicksal (Walter Rathenau) ist die Ausgangslüge des 20. Jahrhunderts. Aber da ist Rathenau von Marx weniger weit entfernt, als es dessen Anhängern lieb wäre.

Liebe Marxisten, da habt ihr noch viel zu tun.

Sendetermin:
Marx Reloaded
http://www.marxreloaded.com/film.html
Ein Film von Jason Barker
Co-Regie Alexandra Weltz
Kulturdokumentation, 52 min., ZDF/ ARTE, 2010

11. April um 23.25 Uhr auf Arte und dann 7 Tage online verfügbar