Zensierte orbitale Sternstunde mit Pannen

Heute vor genau 50 Jahren beförderte erstmals eine Rakete einen Menschen in den Orbit

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Die orbitale Schiffsfahrt des "Kolumbus des 20. Jahrhunderts" war riskant. Sowjetische Fachleute attestierten Juri Gagarin vor seinem Himmelsritt eine Überlebenschance von gerade einmal 47 Prozent. Vier von sieben getesteten Trägerraketen explodierten zuvor beim Start oder kurz danach. Als Gagarin in Kasachstan, dem heutigen Baikonur, am 12. April 1961 abhob und kurz danach im Orbit erstmals das zarte Band der Erdatmosphäre sah und binnen 108 Minuten einmal die Erde umrundete, begann eine neue Ära in der Menschheitsgeschichte. Der mutige Kosmonaut markierte die größte Zäsur des Homo sapiens. Sein riskanter Flug verlief aber nicht so glatt wie die sowjetische Propaganda behauptete.

Zurückgezogen von der Öffentlichkeit, abseits jeglichen medialen Trubels, bisweilen sogar jenseits der Zivilisation und in der Regel ohne die Anwesenheit neutraler Zeitzeugen oder Chronisten, der das Geschehene minuziös protokollierten, ereigneten sich bereits viele Sternstunden der Wissenschafts- und Technikgeschichte.

Fehlende Quellen

Tatsächlich hüllen sich sehr viele historische Quellen zum Leidwesen der Geschichtsforscher besonders bei technischen und wissenschaftlichen Entdeckungen sowie Erfindungen in Schweigen, weil die oft im stillen Kämmerlein oder Labor einsam vor sich hin werkelnden Protagonisten die langfristige Bedeutung ihrer Versuchsreihen oder ihrer Entdeckungen bzw. Erkundungen schlichtweg zu spät erkannten, die entscheidenden Arbeitsphasen ergo weniger exakt dokumentierten oder ihre Aufzeichnungen schlichtweg verschlampten.

Selbst bei historischen Ereignissen kommen diese Mechanismen bisweilen zum Tragen. So geschehen beim größten "öffentlichen" Ereignis der Kulturgeschichte, der ersten bemannten Mond-Mission am 20. Juli 1969, die sage und schreibe fast ein Viertel der Menschheit via Fernsehen und Radio "live" (beinahe live) verfolgte.

Juri Gagarin

Denn ungeachtet des strengen NASA-Protokolls wären Jahre später beinahe einige unersetzliche Primärquellen, sprich die Originalfilme der Apollo-11-Mission, für alle Zeiten im Strom der Zeit verloren gegangen. 2006 galten sie noch als verschollen, 2010 lancierte die NASA, ein Teil davon sei wieder aufgetaucht und stellte eine Filmsequenz vor, auf der Neil Armstrongs Ausstieg und Buzz Aldrins Schritte auf dem Mond qualitativ in einer wesentlich besseren Version zu sehen sind.

Kettenreaktion ohne Ende

Acht Jahre vor dem legendären lunaren Sprung erklomm bekanntlich Juri Gagarin auf immer und ewig den Olymp der Raumfahrt. Wie kein anderer vor ihm schrieb er Geschichte. Als sich der 27-jährige sowjetische Kosmonaut am 12. April 1961 um 9.07 Uhr Moskauer Zeit mit der zweistufigen Wostok-1-Rakete als erster Vertreter des Homo sapiens ins All aufmachte, schlug er nicht nur eine neue Seite in den Annalen der Menschheit auf, sondern markierte zugleich ihre größte, alles überragende Zäsur.

Der "Kolumbus des 20. Jahrhunderts", wie Gagarin einen Tag später auf der internationalen Pressekonferenz angekündigt wurde, brach zu einem neuen Ufer auf, von dem es kein Zurück mehr geben sollte. Er löste eine Kettenreaktion aus. Er ebnete den Weg ins All, dem bis heute 517 Raumfahrer aus 37 Ländern folgten. Bereits 11 Jahre nach seiner orbitalen "Premiere" hatten zwölf verwegene Astronauten per pedes den grauweißen Mondstaub aufgewirbelt. Und wer kann ausschließen, dass in der nächsten Dekade neue Raumfahrergenerationen nicht den Mond zurückerobern und ein weiteres Jahrzehnt später sogar den roten Planeten Mars anfliegen?

Diktat der Propaganda

Doch so unbestritten die historische Dimension der ersten Erdumrundung heute auch sein mag - aus Sicht von Raumfahrtexperten und Historikern erweist sich die Quellenlage immer noch als höchst unbefriedigend. Was damals im Vorfeld, während und kurz nach Gagarins Flug en detail geschah, war viele Jahre lang völlig nebulös, weil sich dessen himmlisches Abenteuer ganz nach dem Willen des damaligen Regimes abseits der Öffentlichkeit, fernab der Zivilisation sowie jenseits allen medialen Trubels abzuspielen hatte.

Während 1969 bei der legendären Apollo-11-Mission praktisch jede Sekunde vom Start bis zur Rückkehr der Mondastronauten peinlichst genau dokumentiert wurde, protokollierte 1961 kein einziger neutraler Beobachter und unabhängiger Chronist im Verlaufe der insgesamt 148 Minuten währenden Mission das Geschehen. Als Gagarin, eingequetscht in seiner wenig komfortablen und beengten Kapsel, seine Orbit-Premiere und Weltumrundung zelebrierte, hatte sich die sowjetische Führung seinerzeit selbst von der Welt abgekapselt.

Schließlich fand das höchst riskante Abenteuer des sympathischen Leutnants, dem Experten eine Überlebenschance von 47 Prozent attestierten, unter Ausschluss der Öffentlichkeit und unter strengster Geheimhaltung statt. Keine Journalisten oder Fotografen, weder ausländische noch inländische, wurden zum Raketenstart und ins Kontrollzentrum geladen oder durften der Landung beiwohnen.

Sowjetisches fait accompli

Nur einige im Dienste des Militärs stehende Kameraleute filmten das Großereignis. Und die einzigen "Journalisten" vor Ort, ausgewählte Vertreter der staatlichen Nachrichtenagentur TASS, sahen das Geschehen erwartungsgemäß vollends durch die kommunistische Brille und berichteten über Gagarins großen Tag getreu den Vorgaben der Propaganda und Zensoren - mit einer Ausnahme.

Denn entgegen der üblichen Vorgehensweise, zunächst einmal das Ende einer Mission abzuwarten, bevor die Meldung rausgeht, lancierte TASS noch während der laufenden Mission über Radio Moskau bereits 50 Minuten nach dem Start der Wostok-1 die frohe Botschaft und gab sogar mit besten Grüßen an die Amerikaner den Funkverkehr frei. Die sowjetische Regierung überraschte ihre Bevölkerung und die Weltöffentlichkeit mit einem fait accompli, um allen die Überlegenheit der eigenen Technik und somit die Überlegenheit des kommunistisch-politischen Systems vor Augen zu führen.

Doch die vollendeten Tatsachen, mit denen Moskau vor allem Washington, D.C. konfrontierte, beruhten weniger auf Tatsachen als vielmehr auf etlichen Unwahrheiten, wie der Gagarin-Biograf Gerhard Kowalski feststellt:

Niemand hat beim Flug von Gagarin mehr gelogen, getrickst, verschwiegen und gefälscht als die damalige Sowjetführung unter Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow. Das Sündenregister ist ellenlang und bis heute noch nicht ganz aufgearbeitet.

Neue Quellen entlarven zwei Gefahrmomente

So mag es nicht verwundern, dass sich unlängst kein Geringerer als der russische Ex-Präsident und amtierende Premier, Wladimir Putin, anlässlich des Jubiläums zu Wort meldete und dazu aufrief, die eigene Raumfahrtgeschichte aufzuarbeiten, um jeglichen Verfälschungstendenzen entgegenzutreten.

Seit dem Zerfall der UdSSR 1992 erblickten immerhin viele Top-Secret-Dokumente nach langjähriger Geheimarchiv-Verbannung wieder das Licht der Welt, wie etwa das offizielle Flugprotokoll Gagarins. Auch wenn noch nicht alle Quellen veröffentlicht und zugänglich sind, kristallisiert sich heute immer mehr heraus, dass die TASS-Meldungen, die 1961 Gagarins gesamten Flug als völlig "normal" und planmäßig charakterisierten, nicht der Wahrheit entsprachen. Neu veröffentlichten Quellen zufolge befand sich Gagarin vielmehr mindestens einmal in mittelbarer und ein anderes Mal in unmittelbarer Gefahr.

So hätten Ingenieure erst im letzten Moment vor dem Start bemerkt, dass der Lukendeckel 1 seiner Raumkapsel, die Gagarins Lebensversicherung war, nicht hermetisch abgeschlossen war.

Weitaus gefährlicher gestaltete sich für Gagarin der Wiedereintritt in die Erdatmosphäre, als sich das Geräteteil nicht erwartungsgemäß von der Landekapsel löste, was dazu führte, dass sich das kleine Raumgefährt mit großer Geschwindigkeit um die eigene Achse drehte und mithin eine Zeitlang manövrierunfähig war. Erst nach einem neunminütigen Parforceritt gen Erde lösten sich die Module wunschgemäß voneinander. Hätte die Abtrennung nicht funktioniert, wäre Gagarin, ohne dies verhindern zu können, mit seiner Kapsel in der Erdatmosphäre verglüht.

Zwei kleinere Fauxpas

Ein anderes Malheur war zwar nicht lebensbedrohlich, dafür aber sowohl für Gagarin als auch für so manch neugierigen Raumfahrthistoriker höchst ärgerlich. Denn als der Kosmonaut seine Schreibunterlagen auspackte, um seine Eindrücke schriftlich festzuhalten, glänzte der unverzichtbare Bleistift mit Abwesenheit. Er hatte sich in der Schwerelosigkeit der Raumkapsel verselbstständigt und war nicht mehr auffindbar und greifbar. Immerhin hielt Gagarin laut eigener Aussage einen Großteil seiner Impressionen ersatzweise so lange auf Tonband fest, bis das Band voll war.

Wie viele geistreiche Gedanken Gagarins als Folge des verschwundenen Bleistifts dabei der Nachwelt verloren gegangen sind, steht noch nicht einmal in den Sternen, die Gagarin mit eigenen Augen erstmals als nicht funkelnde Punkte wahrnehmen durfte.

Sollten zu Papier gebrachte Gedanken wirklich um Nuancen tiefgründiger sein als das gesprochene Wort, so wäre dieser vermeintlich banale Quellenverlust nicht zu unterschätzen. Nicht zuletzt deshalb, da Gagarin angesichts des fast voll automatisierten Raumflugs (alle Manöver etc. wurden von der Bodenstation aus durchgeführt) den Notizblock ganz gewiss nicht einfach zum Zeitvertreib mitgenommen hatte.

Selbst die Landung erfolgte nicht planmäßig. Anstatt wie vorgesehen 120 Kilometer südlich von Wolgograd zu landen, setzte Gagarin, der sich kurz zuvor per Schleudersitz aus seiner Kapsel katapultiert hatte, einige Hundert Kilometer weiter nördlich auf, wo ihn nicht die offizielle Bergungsmannschaft zuerst begrüßte, sondern eine sichtlich über die Montur Gagarins erschrockene Bäuerin namens Anna Tachtarowa und ihre Enkelin.

Kein Gagarin-Flight-Hoax

Im Vergleich zur Mondlandung weist Gagarins Flug eine Besonderheit auf. Denn der Vorwurf der nimmer zu belehrenden Moon-Hoax-Befürworter, die Armstrongs kleinen Schritt und großen Sprung für die Menschheit nicht auf dem Mond, sondern in einem Militärhangar oder irdischem Fernsehstudio vermuteten, blieb den Protagonisten des 12. April 1961 der Vorwurf der böswilligen Mystifikation indes erspart.

Noch hat sich kein Verschwörungstheoretiker eingefunden, der Gagarins epochalen Schritt ins Reich der Legenden verwiesen hat. Dies ist umso verwunderlicher, weil die Quellenlage von Gagarins historischen Flug (wir wir gesehen haben) im Vergleich zu den Apollo-Missionen als dürftig zu bezeichnen ist, und kein unabhängiger Zeitzeuge die Authentizität seines Fluges weder genau bestätigen noch widerlegen kann.

Wie dem auch sei - um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Gagarins Raumflug hat natürlich de facto stattgefunden, nicht zuletzt deshalb, weil auch der amerikanische Geheimdienst seinerzeit nicht Gegenteiliges offenlegte. Gemeinsam mit der ersten bemannten Mondmission Apollo 11, die auch der russische KGB nicht als Verschwörung entlarven konnte (weil sie keine war!), repräsentiert der 12. April 1961 ebenso wie der 20. Juli 1969 ohne Wenn und Aber den irreversiblen Aufbruch der Menschheit ins All.

Gagarins Nachhall

Wenn in 1000 Jahren unsere Nachkommen unser Sonnensystem besiedelt haben und vielleicht sogar die interstellare Raumfahrt beherrschen, wird sich mit Sicherheit keiner von ihnen an irgendwelchen Fußballweltmeisterschaften, DSDS-Gesangswettbewerben, ja selbst nicht an den Aufstieg und Niedergang von Staaten, Kulturen, Diktaturen oder Religionen im Einzelnen erinnern. Jähren sich jedoch die raumfahrthistorischen Zäsuren aus den 1960ziger Jahren, werden die Karten neu gemischt.

Ob unsere Nachfahren in 1000 Jahren nun menschlich, hybrid oder android sein mögen - sie werden sich bei ihren Reisen durchs All sicherlich aller historischen Wurzeln besinnen und die entscheidenden Eckdaten ihrer Geschichte nicht aus den Augen oder Sensoren verlieren. Immer dann, wenn neue Raumfahrtgeschichte geschrieben wird, wann und wo auch immer, schimmert Gagarin einzigartige Pionierleistung durch und wirkt nach.

Ja, je tiefer der Homo sapiens ins All vordringt, desto stärker rücken Gagarins historische Wurzeln ins Bewusstsein unserer Nachkommen. Als Christoph Columbus 1492 den amerikanischen Kontinent betrat, konnte er sich ebenso wenig ein Bild über die Folgen seiner Entdeckung machen. Bei Gagarin verhält es sich ähnlich. Auch er konnte damals mitnichten ahnen, welche Auswirkungen seine Pioniertat langfristig hat.

Sicher ist jedenfalls, dass Juri Gagarin, den einige seiner Zeitgenossen bereits 1961 vielleicht völlig zu Recht als Kolumbus des 20. Jahrhunderts bezeichneten, sich mit Nachdruck gewünscht hätte, das wir - angetrieben von der unversiegbaren Quelle "Neugier" und beflügelt von wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn - noch nachhaltiger den Sprung weg vom Orbit ins All wagen, wo der Erdtrabant, der Mars und all die anderen Planeten da draußen nur auf uns zu warten scheinen.

Näheres zu Juri Gagarin und seine Leistung sowie seinen Einfluss auf andere Raumfahrer siehe Interview "Es geschieht nichts Großes, ohne dass jemand den ersten Schritt wagt!" mit dem Ex-Wissenschaftsastronauten Gerhard Thiele, das in diesem Magazin morgen erscheint.

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