Im Westen ist die Toleranz für Katastrophen geschwunden

"Man besteht darauf, dass die Gesellschaft uns in allen Lebenslagen beschützt." Gespräch mit dem Kulturhistoriker François Walter

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Der Schweizer Kulturhistoriker François Walter hat in die Abgründe der Geschichte neuzeitlicher Katastrophen und ihrer Wahrnehmung geschaut. Sein Buch "Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21.Jahrhundert" erzählt eine faszinierende Geschichte des Katastrophendiskurses und seiner Deutungsmuster. Durchaus kritisch schreibt Walter über unsere Lust am Katastrophismus und darüber, wie Desaster auch als Schauspiel und Metapher dienen, als Beweis der Existenz Gottes und als deren Widerlegung - und über die "Hochkonjunktur des Alarmismus" in jüngster Zeit. Telepolis sprach mit François Walter.

Im Kino und in der Literatur boomen Katastrophenszenarien schon seit langem. Woher kommt diese Lust an den Katastrophen, unsere Faszination für sie?

François Walter: Ich denke, es gibt in der Zivilisation des Westens ganz allgemein eine Form der Faszination für die Zerstörung. Dahinter steckt Furcht: Man hat Angst vor dem Ende der Welt, man hat Angst vor dem Tod, man hat Angst vor dem Verschwinden. Gleichzeitig gibt es eine Art Faszination für die Kräfte der Natur, für alles, was an ihnen mysteriös und unkontrollierbar erscheint - wie eben Naturkatastrophen, alle Formen von Desastern. Diese Faszination hat auch eine ästhetische Seite. Man ist beeindruckt von der erhabenen Gewalt der Natur.

Das alles gibt es schon etwa seit dem 18. Jahrhundert - begonnen hat es seinerzeit eigentlich vor allem mit dem Vulkanismus, der Erforschung der Vulkane.

Die berühmteste Katastrophe - auch in ihren immensen geistesgeschichtlichen Auswirkungen - ist bislang immer noch das Erdbeben von Lissabon aus dem Jahr 1755. Dies erschütterte auch den Vernunft-Glauben des Aufklärungszeitalters, es schien die unkontrollierbare Macht der Natur zu beweisen - gegen alle Formen ihrer vermeintlichen Beherrschung. Gibt Lissabon bis heute das Schema der Katastrophenwahrnehmung vor?

François Walter: Das Erdbeben von Lissabon markiert ganz sicher eine Zäsur in unserer Wahrnehmung von Desastern. Es gab eine unglaubliche Zahl von Opfern, und es war sehr schwierig diese Vorgänge zu erklären - in einem Jahrhundert, in dem man ja noch glaubte, dass die ganze Natur das Werk Gottes sei, und dass dieser Gott die Elemente der Natur harmonisch eingerichtet habe. Seit Lissabon verschwand diese Harmonie-Vorstellung zusehends.

Der zweite Aspekt ist die Medialisierung der Katastrophe. Lissabon war die erste Katastrophe, die zu einem gesamteuropäischen Medienereignis wurde. Lissabon war ein Ereignis für die Literatur und für die Philosophie. Alle haben über Lissabon geschrieben und debattiert. Das war etwas völlig Außergewöhnliches, so etwas hatte man vorher überhaupt nicht gekannt.

Die japanische Zivilisation ist im Prinzip davon überzeugt, dass man mit Technik alle solche Phänomene meistern kann

Gibt es eigentlich einen Unterschied in der Wahrnehmung von Naturkatastrophen und menschengemachten Katastrophen? Das, was wir jetzt in Japan erleben, ist ja eigentlich eine Mischung aus diesen beiden Elementen...

François Walter: Ja, das ist eine wirklich interessante Frage. Im Fall des Erdbebens von Japan muss man die Reaktion der japanischen Bevölkerung stark unterscheiden: Erdbeben und Tsunamis ist man in Japan, so schlimm sie auch sein mögen, selbst auf diesem Niveau des Schreckens gewissermaßen gewöhnt. Dagegen revoltiert man nicht. Solche Ereignisse sind Teil der japanischen Kultur. Wir wissen, dass Erdbeben und Tsunamis zur Geschichte Japans gehören, dass es entsprechende Darstellungen schon seit Jahrhunderten gibt - denken Sie nur an die berühmte Tsunami-Darstellung von Hokusai.

Sie stammt aus dem Jahr 1830 und signifiziert für die ganze Welt etwas sehr typisch-japanisches. In Japan gibt es eine Kultur des Desasters. In Mangas, im Kino, in der Literatur.

Ein anderer Aspekt der Katastrophe ist all das, was erst aus den Aktivitäten der Menschen folgt. Das ist für die japanische Kultur der Gegenwart viel schwerer zu akzeptieren. Man weiß, dass man diesen Katastrophen-Typ eigentlich hätte vermeiden können. Die japanische Zivilisation hat ein extrem fortschrittliches Niveau, und ist im Prinzip davon überzeugt, dass man mit Technik alle solche Phänomene meistern kann. Das gilt auch gerade für technisch so anspruchsvolle Einrichtungen wie Atomkraftwerke. Also: Das was gerade passiert, erscheint besonders absurd.

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