Beherzte Politik

Massenhysterie, Opportunismus, Energiewende. Deutschland nach Fukushima

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Würde Sigmund Freud heute oder noch leben, böte sich ihm, im Herzen Europas, ein weites Betätigungsfeld. Gesellschaftliche "Hysteresen" (Jean Baudrillard) scheinen hierzulande zum Normalfall zu werden, in Politik, Medien und Öffentlichkeit.

Vor mehr als hundert Jahren war das noch völlig anders. Da kannten diesen "Seelenbefund" nur wenige. Damals musste der Wiener Seelendoktor noch an die bekannteste psychiatrische Nervenheilanstalt wechseln, um Anschauungsmaterial zur Bestätigung seiner Beobachtungen und Diagnosen zu finden.

An der Salpetrière lehrte und arbeitete bekanntlich Jean-Martin Charcot. Vom "Napoléon der Hysterie" hoffte Freud die letzten Geheimnisse der seinerzeit noch gynäkologisch definierten Krankheit (Zur Geschichte der Hysterie und die Entstehung der Psychoanalyse) zu erfahren.

Zwar hing Charcot noch der altgriechischen Überzeugung an, dass die Hysterie eine funktionelle Nervenkrankheit sei, die auf einer erblichen Disposition beruhe und vor allem durch suggestive Äußerungen, durch Stimmen, Hypnose oder Ähnliches ausgelöst werde. Nach Freuds Rückkehr und den danach mit Josef Breuer herausgebrachten "Studien zur Hysterie" änderte sich diese Expertenansicht aber grundlegend.

Gewiss verband auch der Wiener Seelenarzt die Hysterie noch mit dem weiblichen Geschlecht. Freilich löste er die Krankheit aus ihrer Hereditätsbezogenheit. Seit Freud verbindet man mit ihr keine anatomischen oder medizinischen Ursachen mehr, sondern betrachtet sie als Ergebnis eines psychischen Vorgangs, der sich körperlich äußert.

Dissoziative Störung

Mittlerweile ist diese Sichtweise Allgemeingut und auf nahezu alle psychischen Störungen übertragen worden. Ferner hat man die geschlechtspezifische Ausrichtung der Hysterie längst revidiert. Grundsätzlich kann diese "dissoziative Störung", wie man sie heute politisch korrekt nennt, jeden treffen, Frauen und Männer, Gruppen und ganze Gemeinschaften.

Sie taucht auf, wenn ursprünglich zusammengehörige Denk-, Handlungs- oder Verhaltensabläufe zerfallen und der willentlichen Kontrolle entgleiten. Eine "hysterische" Reaktion kann durch ein plötzliches Ereignis oder einen unerwarteten Vorfall in der Umwelt des oder der davon Betroffenen ausgelöst werden. In aller Regel braucht es dazu ein bestimmtes äußeres Objekt, auf das sich Unbehagen oder Angst richten kann.

Meist findet man solche Störungen bei Leuten, die von Haus aus eine starke Einbildungskraft haben und auf Unvorhersehbares übernervös, hektisch und gar unüberlegt (über)reagieren und auf Einwände oder Argumente, die seine diffusen Ängste als unbegründet erscheinen lassen, höchst reiz- und erregbar reagieren.

Deshalb verwundert es auch nicht, dass Freud sowohl den begrifflichen Apparat, "Bewusstsein" und "Unbewusstsein", als auch den Kern der psychoanalytischen Theorie, "Abwehr" und "Widerstand", "Übertragung", "freie Assoziation" und "Überdeterminiertheit", am "Krankheitsbild" der Hysterie entwickeln konnte.

Da der "Hysteriker" nach einiger Zeit des emotionalen "Ausnahmezustands" in aller Regel wieder zum gewohnten Alltagshandeln zurückkehrt, findet man die Hysterie nur noch selten auf der Liste schwerer psychischer Erkrankungen. Im dortigen Kontext wird sie nur noch als Form einer "psychischen Konfliktlösung" verstanden, die durch "Vorstellungen" ausgelöst wird, die entweder dem eigenen Geltungsbedürfnis und Egozentrismus oder dem Bedürfnis nach sozialer Anerkennung häufig zuwiderlaufen.

Massenhysterie im Kleinformat

Bemerkenswert ist, dass hysterische Reaktionen immer häufiger als Gruppen- oder Massenphänomen auftauchen, in Schulen oder bei Rockkonzerten etwa, aber auch bei Religionsgemeinschaften oder Sekten, die nach Identifikationsmustern, Solidarisierung oder Führungspersonen suchen, oder auch, verstärkt und zunehmend, in postmodernen Gesellschaften, die ihre Daten und Informationen medial erzeugen und transportieren.

So glaubte zum Beispiel die Wochenzeitung Der Freitag vor einiger Zeit, eine Art von Hysterie bei zu Guttenberg-Anhängern entdeckt zu haben, als sie ihn nach seiner politischen Demission tagelang via Facebook virtuell unterstützt haben (Der Traum der Deutschen). Die Zeit wiederum wollte angesichts des tunesischen Flüchtlingsstroms auf Lampedusa eine italienische Hysterie bemerkt haben (Die italienische Hysterie ist fehl am Platz). Und auch das Handelsblatt sprach unlängst von einer "organisierten Hysterie" (DSDS ist organisierte Hysterie), nachdem eine Autogrammstunde der DSDS-Superstars in einem Oberhausener Kaufhaus eine Massenpanik unter den jungen Leuten verursacht hatte.