Architekturen der Gefahr

Bilder: Farbfilm

Mit "Unter Kontrolle" kommt ein luzider Dokumentarfilm über die verborgenen und sichtbaren Gefahren der Kernenergie in die Kinos.

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Als "Unter Kontrolle" auf der diesjährigen Berlinale am 11. Februar seine Weltpremiere feierte, waren sich der Regisseur Volker Sattel und sein Drehbuchautor Stefan Stefanesku im nachfolgenden Publikumsgespräch noch nicht sicher, ob ihr Film - trotz des nahen Tschernobyl-Jubiläums - überhaupt außerhalb von TV-Vorstellungen auf ARTE oder WDR wahrgenommen werden würde. Mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima hat sich dies geändert: "Unter Kontrolle" steht wahrscheinlich ein glänzender Kinostart bevor - und das zu Recht!

Das Wesentliche an der Atomenergie ist unsichtbar - zur kulturellen Be-/Verarbeitung bedarf es deshalb der Sichtbarmachung. "Unter Kontrolle" hat sich genau dieser Aufgabe verschrieben: Über Jahre hinweg bereisten Volker Sattel und sein Team Atomkraftwerke in Deutschland und Österreich. Sie sprachen dort mit Ingenieuren, ließen sich Havarie-Szenarien, Sicherheitstechniken und nicht zuletzt jene von außen nicht sichtbaren Strukturen im Inneren der oft imposanten Gebäude zeigen. Ihre Reise führte sie zu laufenden, stillgelegten, im Abriss befindlichen und nicht zu ende gebauten Reaktoren.

Spaltproduktion

Ihre Begegnung mit der Atomenergie-Technik lieferte eine zweigespaltene Erzählung: Da sind zum einen die Architekturen, Gebäude - insbesondere die oft typisch halbrunden Sicherheitskuppeln um die Reaktorkerne und die in ihrer Nähe stehenden bikonkav geformten Kühltürme -, die seit Jahrzehnten gleichsam Sinnbilder für diese Art der Energiegewinnung geworden sind ... die jedoch zumeist aus der Ferne betrachtet werden müssen, weil die Sicherheitsbestimmungen "Unbefugten" das Näherkommen verbieten ... deren markantes und die Landschaft auf typischer Weise markierendes Aussehen solche "Unbefugten" auch auf respektvollem Abstand hält - aus Angst vor der unsichtbaren Radioaktivität.

Die andere Seite des Films zeigt dann aber doch den Reaktoren nahe Menschen: eben jene Techniker, die in den Kraftwerken für deren Funktionieren sorgen. Aber auch solche, die mit dem Abriss und der Entsorgung der Gebäude und ihres Inventars beschäftigt sind. Ihnen ist keine Angst vor Strahlung anzusehen. Sie strahlen selbst eine "Sicherheits-Sicherheit" aus - wie jener Mitarbeiter, der sich in der "Wartehalle" für die zum Abtransport bereiten Castoren stellt, seine Hand fast zärtlich auf einen der Behälter legt und dem Zuschauer mitteilt, wie angenehm warm dieser ist. Und zu guter letzt sind da auch noch die Mitarbeiter der Internationalen Atomenergie-Aufsichtsbehörde in Wien, die sich als die letzte Bastion zwischen der Gefahr und ihrer Eindämmung und wirtschaftlichen Nutzung sieht. Wie fernab die beiden Interviewten der IAEO dem eigentlichen Geschehen sind, zeigt schon die Gemütlichkeit ihrer Büroeinrichtung zwischen Papierstapeln und Kaffee-Maschinen.

Ästhetik und Anästhesie

"Unter Kontrolle" führt in seinen Bildern ein ästhetisches Paradox vor - nicht weil er eigentlich von etwas handelt, das unsichtbar ist. Das ist es nämlich für den Film gar nicht: Schon die Anfangs- und Endtitel zeigen, dass Film eines der wenigen Medien ist, dass die Radioaktivität der Unsichtbarkeit entreißen kann. Die Titelsequenz zeigt Bilder aus einer Nebelkammer, in der die Bahnen der Radioaktivität "nachgezeichnet" werden und wie dies vom Film als Begegnung aufgezeichnet wird. Und auch auf anderem Weg hat sich Radioaktivität immer schon in Film "eingeschrieben" - hier und da in Spielfilmen, deren Plot nach dem Atomkrieg verortet ist: Ob es "Draußen" immer noch gefährlich ist, lässt sich feststellen, wenn man einen unbelichteten Film dabei hat, der von der Strahlung geschwärzt wird.

Nein, das Paradox in "Unter Kontrolle" ist eher ein sichtbares: In den Rundungen der typischen AKW-Architekturen, die beinahe so etwas wie Sinnlichkeit ausstrahlen, von der Kamera nah heran geholt, näher als sie ein "Unbefugter" je zu Gesicht bekäme, offenbart es sich. Die von weiten schlichte Industriearchitektur der betongrauen Gebäude wird durch die Annäherung und beeindruckende "Vergrößerung" ins visuell Erhabene gesteigert. Das Erhabene, das wissen wir seit Burke und Kant, ist allerdings eine ästhetische Eigenschaft der Natur, die dem Menschen mit ihrer Größe, Unendlichkeit und sublimen Gefährlichkeit seine Bedeutungslosigkeit und Grenzen vor Augen führt und dadurch jenes Erschaudern verursacht, das Caspar David Friedrichs "Wanderer im Nebelmeer" wohl im dargestellten Augenblick empfinden mag.

Erhabene Entnebelungsstrategien

Indem Volker Sattel, der bei seinem Film selbst die Kamera geführt hat, den AKW-Gebäuden so nahe kommt, ihre runden Strukturen abfährt, die Gebäude aber immer wieder auch in verschobenen Perspektiven einfängt, die deren immense Größe auf die Kinoleinwand bringt, versinnbildlicht er dieses Erhabene, das sich unsichtbar in ihrem Inneren vollzieht. In der Verkehrung der Verhältnisse ist es nämlich dort das immens Kleine der geregelten Kettenreaktion, die im Reaktor abläuft, der sich der ungleich größere Mensch hilflos ausgesetzt "fühlt". Und er fühlt ja eigentlich gar nichts; nicht einmal, wenn die Kettenreaktion - wie damals in Tschernobyl und jetzt in Fukushima - nicht mehr geregelt abläuft. Erst Stunden, Tage, Wochen, Monate oder Jahre später - je nachdem, wie weit er in die "Unbefugten" unzugängliche Zone eingedrungen ist bzw. diese sich unmerklich ausgeweitet hat, endet seine "Anästhesie" und beginnt sein "Schaudern" in Form der Strahlenkrankheit.

Durch das Heranfahren an die Hülle, die verschobenen Perspektiven, die scheinbar unendliche Größe und Höhe der Gebäude suggerieren, sorgt "Unter Kontrolle" für eine korrigierende Umkehr dieser verkehrten Verhältnisse. Wie die postmoderne Ästhetik das Erhabene als Aufgerüttelt werden aus dem ästhetischen Schlummer der Moderne verstanden hat, reißt auch Sattels Film die Kernenergie durch seine Bildgewalt aus ihrer Unspürbarkeit. Er führt uns dies vor in der Ignoranz und der Indolenz der Betreiber und Techniker, deren Rhetorik noch aus jeder möglichen Katastrophe einen beherrschbaren "Zwischenfall" oder kontrollierbaren "Vorfall" gemacht hat, und deren Sicherheits-Sicherheit sich auch in der der megalomanen Architektur spiegelt.

Volker Sattel ist mit "Unter Kontrolle" nicht weniger gelungen, als zu durch Sinnbilder zu zeigen, dass sich die Natur nicht beherrschen und im Falle der Atomkraft nicht einmal "kontrollieren" lässt. Sein Film-Titel ist damit durch und durch ironisch gemeint - deshalb braucht sein Film auch keine konkrete Aussage: Die Dokumentaristen sprechen den ganzen Film über nicht; sie lassen die Interviewpartner sprechen, vor allem aber die Bilder.