Bombenteppiche für Gaddafi

Über die Widersprüche eines wenig überlegten, vom Menschenrechtspathos getragenen Militäreinsatzes. Die NATO am Scheideweg

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Seit 1989 die Mauer fiel und mit ihr der kommunistische Block dazu, steht die sicherheitspolitische Rolle der NATO, ihr Wert und ihre Existenzberechtigung auf der Agenda (Nato and World Security). Gewiss konnte durch die Eingliederung vormaliger Warschauer-Pakt-Staaten die Frage nach dem Wozu und Wofür erst einmal ausgeklammert werden (A Plan for Europe: How to Expand NATO). Auch konnte das Problem durch neue Herausforderungen, wie den War on Terror und den Einsatz am Hindukusch, noch eine Zeitlang übertüncht und ausgesessen werden.

Animositäten und Meinungsunterschiede

Doch anders als vorher in der Balkan-Frage, als die Amerikaner den militärisch schwachbrüstigen und uneinigen Europäern noch zu Hilfe kommen mussten, um Milosevic mit massiven Luftschlägen zum Einlenken im Kosovo zu bewegen, herrschte post Nine-eleven Einigkeit, den Paragraf fünf des NATO-Vertrages, der "Bündnissolidarität" und Ernstfall regelt, sogar außerhalb des militärischen "Stammgebietes" anzuwenden.

Schon im Jahr drauf, bei der Irak-Kampagne, brachen aber die latenten Ressentiments und Gegensätze, die das Bündnis seitdem durchziehen, zwischen altem und neuem Europa, Falken und Tauben wieder auf. Von einer "Aushöhlung des Bündnisses" war die Rede (The Hollow Alliance), vom "Anfang vom Ende" genauso wie von ihrer "Wiederbelebung" (Das Bündnis retten). Die Gewichts- und Schwerpunktverlagerung des Bündnisses in Richtung Osten forderte ihren politischen Preis.

Erst nach längeren, mitunter äußerst hitzig geführten Diskussionen gelang es, die Spannungen durch Verständigung auf eine gewisse Arbeitsteilung zu lösen. Damit die Amerikaner sich verstärkt um den Irak und den Sturz Saddam Husseins kümmern konnten, übernahm die NATO das Oberkommando in Afghanistan (Rebuilding the Atlantic Alliance).

Tiefe Zerwürfnisse?

Am Hindukusch und beim Nation-Building verfolgte allerdings jedes NATO-Mitglied bald seine eigene Strategie. Zeigten Amerikaner und Briten im Süden den Aufständischen militärisch die Kante, wollten die Deutschen im Norden als zivile Aufbauhelfer und Polizeiausbilder glänzen. Geholfen hat letztlich keine der Strategien. Von einer Befriedung ist das Land nach wie vor meilenweit entfernt, ganz zu schweigen von einer demokratischen Entwicklung. Scheitert die NATO am Hindukusch, so sind die Tage des westlichen Militärbündnisses, so die einhellige Meinung vieler Beobachter, gezählt (Der Krieg, der notwendig ist, aber keiner sein soll).

Im Libyen-Konflikt und der Frage, ob oder wie man den Rebellen beistehen oder sie unterstützen kann, mit Luftschlägen, Waffenlieferungen oder gar mit dem Einsatz von Bodentruppen, sind die Zerwürfnisse erneut aufgetaucht. Möchte Obama die Aktion weitgehend den Europäern überlassen, streiten die Europäer um Oberkommando und Ausmaß der Operation. Die Franzosen wollen führen, die Briten auch, die Türken und die Deutschen gar nicht, und die USA nur widerwillig. Wollen die einen und können nicht, ihnen geht bereits die Munition aus; können und wollen nicht die anderen wegen zu viele anderweitiger Verpflichtungen.

Angesichts dieser uneinigen Vielstimmigkeit machen erneut Stimmen die Runde, die vor einem Ende der NATO warnen (Swan Song). Die Konferenz der Außenminister, die unlängst in Berlin zur Libyen-Frage stattfand konnte solchen "Todesgesängen" nicht wirklich die Spitze nehmen. In beeindruckender Weise scheint sich an der Libyen-Frage zu bestätigen, was die Spatzen längst von den Dächern pfeifen: Die Zukunft des Militärbündnisses ist so ungewiss wie die Zukunft selbst (Allianz ohne Ziel).

Im Vorhof der Macht

Um sich zu vergegenwärtigen, was in Nordafrika mit auf dem Spiel steht, muss man sich vielleicht noch einmal kurz vor Augen halten, wie die NATO in dieses militärische Abenteuer geschlittert ist. Die Geschichte (oder sollte man besser von ihrer Legende reden?), geht bekanntlich so: Der bestens bekannte "Schwätzer und Dampfplauderer" (A. Badiou) Bernard-Henri Lévy (Der Resolutionsführer) befand sich nach Aufenthalten in Ägypten und Tunesien (Retour d'Egypte) Ende Februar auch auf einer Rundreise im Osten Libyens.

In Benghasi wollte er unter anderem auszuloten, wie ehrlich es die Rebellen mit ihrem Aufstand gegen Oberst Gaddafi meinten. Er traf einige ihrer Führer, befragte sie nach ihren Motiven und politischen Zielen und blickte ihnen dabei fest und in die Augen. Sie sagten ihm, dass es da keine Zweifel geben konnten. Sie waren keine Islamisten, planten keinen Putsch à la Iran und hatten auch mit Al Qaida nichts am Hut.

Darauf rief er umgehend seinen Präsidenten in Paris an. Der lud auf Geheiß des Philosophen umgehend eine Delegation der Widerständler nach Paris und erkannte sie dort, zum Erstaunen und zur Überraschung aller Europäer, als rechtmäßige Vertretung des Landes an (Face à Kadhafi, la France sonne la charge).

Blutbad droht

Als Erdbeben, Tsunami und Fukushima in Japan die Schlagzeilen der Weltpresse bestimmten, das Thema Libyen von der Agenda flog und Gaddafi sich aufmachte, den abtrünnigen Osten des Landes von den Aufständischen zurückzuerobern, nahm der französische Präsident das Heft des Handelns urplötzlich in die Hand. Die Libération titelte darauf treffend: "Sarkozy plustert sich auf" (Sarkozy bomb le torse).

Sarkozy bat inzwischen die Außenminister aller relevanten Staaten nach Paris und überzeugte sie, den Rebellen durch ein Votum des UN-Sicherheitsrates zu Hilfe zu eilen (Letter from David Cameron and Nicolas Sarkozy to Herman Van Rompuy).

Ob tatsächlich ein Massaker an den Einwohnern der Stadt Benghasi durch Gaddafis Truppen drohte, wie der französische Präsident und sein Einflüsterer Lévy vorgaben, wird kaum mehr zu klären sein. Zwar sprach Saif al-Islam, einer der Söhne Gaddafis, von einem "Blutbad", und auch Gaddafi selbst kündigte im Radio an, er werde die Stadt "Haus für Haus, Zimmer für Zimmer; Schrank für Schrank nach Rebellen durchkämmen" lassen. Aber ob die Erstürmung der Stadt zwingend mit einem Gemetzel enden musste, ist eine offene Frage.

Laut Financial Times hatte die libysche Armee Benghasi zwar umzingelt, sie hatte aber keinesfalls vor, dort einzudringen. Vielmehr sollten Anti-Terrorkräfte in die Stadt vordringen, um die Rebellen zu entwaffnen (Security Council votes for no-fly zone). Vergleiche mit anderen Kriegsgründen, den Beschuss des amerikanischen Zerstörers "Maddox" im Golf von Tonkin durch nordvietnamesiche Truppen am 2. August 1964 etwa, die Berichte über Babys, die irakische Truppen aus kuwaitischen Brutkästen herausgerissen und ermordet hatten von 1991, oder jene Massenvernichtungswaffen, die Saddam Hussein im Irak angeblich versteckt hatte, böten sich da vielleicht an.

Schwammige Resolution 1973

Nichtsdestotrotz verständigte man sich am 17. März auf Kapitel 7 der UN-Charta. Die Mitglieder des Sicherheitsrates verabschiedeten die Resolution 1973, die, erstens, die "Einrichtung einer Flugverbotszone" und, zweitens, "Luftschläge zum Schutz der Zivilbevölkerung" erlaubt (Security Council authorizes 'all necessary measures' to protect civilians in Libya). Mehr nicht.

Was mit "allen notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung" allerdings gemeint ist und was die "Verantwortung zum Schutz" im konkreten Fall bedeutet, ob sich das nur auf Waffenembargos, Handelsbeschränkungen oder das Einfrieren ausländischer Konten bezieht, Bombardierungen aus der Luft, begrenzte militärische Operationen am Boden oder gar ein Regime Change erlaubt, darüber hüllte sich die Resolution zunächst in Schweigen. Der "Ermessensspielraum", den der Beschluss eröffnet, ist jedenfalls groß.

Das anfängliche Zögern des amerikanischen Präsidenten war so gesehen durchaus verständlich. In einen Schlamassel gezogen zu werden, dessen Verlauf und Ausgang er nicht kennt, dieser Gedanke schien Obama nicht besonders zu gefallen. Zumal es sich dann binnen kurzer Zeit um den dritten Angriff auf ein von Muslimen bewohntes Land handeln würde. Trotz aller Bedenken, die auch die Skeptiker in seiner Regierung, darunter auch sein Verteidigungsminister teilten, stimmte Obama der Resolution genauso zu wie Frankreich und Großbritannien, während China und Russland auf ein Veto verzichteten und Indien und Brasilien und vor allem die Bundesrepublik sich enthielten.

Schon zwei Tage später, am 19. März, begann die Operation "Odyssey Dawn" mit Tomahawks, Jagd- und Langstreckenbombern auf Tripolis, die laut Obama, so in seiner "Kriegserklärung" in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia, "Tage, höchstens Wochen" dauern werde.

Joschka poltert

Die Stimmenthaltung der Bundesregierung und insbesondere des deutschen Außenministers rief hierzulande alsbald großes Unverständnis und teilweise heftige Kritik hervor. Unter Politikern ebenso wie unter Meinungsführern und Rechtsphilosophen. Das Land stelle sich mit ihrer Entscheidung an die Seite autokratischer Staaten, hieß es. Mit ihrer Verweigerung wolle die Regierung nur bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz punkten, dafür riskiere sie sogar ihre Glaubwürdigkeit im Nahen Osten.

Wieder einmal zeige sich das Land als Drückeberger, wenn es "zum Schwur" kommt", polterte beispielsweise Joschka Fischer in der Süddeutschen Zeitung (Deutsche Außenpolitik - eine Farce). Mit ihrem Verhalten trete sie den angestrebten Sitz im UN-Sicherheitsrat "in die Tonne". Der "außenpolitische Schaden" sei so groß, dass ihm, Fischer, um Europa "angst und bange" werde.

Unterschiedliche Rechtslage

Folgt man dem deutschen Außenminister außer Dienst, dann unterscheidet sich die libysche Intervention von der im Irak ganz erheblich. Damals brachen die USA "aus ideologischen Gründen" einen Krieg gegen den erklärten Willen des UN-Sicherheitsrates vom Zaun. Die Situation in Libyen ähnle aber der in Bosnien. Auf dem Balkan sei es anno 1995 schließlich darum gegangen, den Serben in den Arm zu fallen und einen Völkermord an den europäischen Muslimen zu verhindern.

Auch diesmal würden die Sicherheitsinteressen der EU und Deutschlands wieder unmittelbar berührt. So wie damals Bosnien und der Kosovo zum Hinterhof von NATO und EU gehörten, läge auch Libyen quasi vor der Haustür. Allein wegen dieser raumpolitischen Nähe des nordafrikanischen Landes könne sich das wirtschaftlich stärkste und bevölkerungsreichste EU-Land nicht einfach heraushalten. Darum verstehe er das "Zaudern, Zögern und Jammern" der Bundesregierung nicht. Wer zu schwierigen Entscheidungen, über Krieg oder Frieden unfähig sei, der sollte lieber vermeiden, Regierungsverantwortung zu übernehmen.

Die Wut Joschka Fischers war ebenso verständlich wie überraschend. Einerseits. Andererseits vergaß er aber zu erwähnen, dass zwar der Einsatz in Bosnien durch die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates gedeckt war, nicht aber die militärische Kampagne gegen Milosevic in der Kosovo-Frage. Völkerrechtlich betrachtet waren diese Aktionen illegal. Wegen des befürchteten Vetos Chinas und Russlands war es nicht zur Abstimmung im Sicherheitsrat gekommen (Winning Ugly in Libya).

Andere Bellizisten folgen

Bemerkenswerterweise war es nicht nur Fischer, der sein Unverständnis gegenüber der Entscheidung der Bundesregierung, sich an der Aktion gegen Libyen nicht militärisch zu beteiligen, lauthals und wutentbrannt zum Ausdruck brachte. Damit schlug er sich nur auf die Seite Daniel Cohn-Bendits und einer ganzen Reihe bekannter französischer Intellektuellen, die in Le Monde einen Aufruf für ein neues Libyen publiziert hatten (Oui, il faut intervenir en Libye et vite!) und diesen danach auch noch verteidigt haben (Wir müssen schützen).

Auch andere mehr oder weniger prominente Intellektuelle wollten glatt dem Diktator Gaddafi militärisch in den Arm zu fallen (Frieden machen mit dem Krieg). Darunter auffallend viele aus dem "links-pazifistischen" Milieu, wie etwa Peter Schneider, Klaus Staeck oder Hans Christoph Buch, während ausgerechnet der deutsche Außenminister und der Entwicklungsminister gegen den Einsatz votierten.

Moralische Umfaller

Dieser neu erwachte Bellizismus im publizistischen Lager überraschte doch sehr, vor allem ihre moralische Entschiedenheit. Vor allem, wenn man sich noch an die vehementen Reden und Texte gegen die Einsätze auf dem Balkan und im Zweistromland erinnert.

Hatte man da nicht erhebliche Skrupel und moralische Bedenken gegen jede Art von "gerechten Kriegen" und "humanitären Interventionen" geäußert, sie für "anmaßend" und "blind" (Wofür wir kämpfen), "gefährlich nebelhaft" (Aufruf an die Kulturwelt) und "zulasten unbeteiligter Dritter" (Ein-Aufruf-Zeichen) erklärt?

Und hatte man dem amerikanischen Verteidigungsminister Rumsfeld, als die Bushies gegen den irakischen Diktator ins Feld zogen, ein selbstgewisses "I’m not convinced" entgegengeschleudert? Ist das Gedächtnis so untreu, die Erinnerung an diese Zeit schon so verblasst?