"Unsere Bewusstheit zeitigt auch entschiedene Nachteile"

Gespräch mit Alexander Braidt über die Sonderstellung des menschlichen Gehirns - Teil 2

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Den Ausführungen von Alexander Braidt zufolge sind die konträren Positionen der Einzelwissenschaften vom Menschen vor allem dem Umstand geschuldet, dass diese ihre Ergebnisse verabsolutieren und nicht den Entwicklungszusammenhang begreifen, der mit Hilfe von Philosophie und Evolutionsbiologie rekonstruiert werden kann. Teil 2 des Interviews mit Alexander Braidt zu seinem Buch Bewusstsein - der Abgrund zwischen Mensch und Tier.

Teil 1: Die Verbindung von Hirnforschung und Philosophie

In welcher Position befindet sich das Bewusstsein im Verhältnis zum Unbewussten?

Alexander Braidt: Das entscheidend Neue, das sich mit der entstandenen "Bewusstheit" ergibt, ist das bewusste Ich des Menschen. Über ein Ich verfügen natürlich auch Tiere, wie ihr ichbezogenes Verhalten verrät. Nur bleibt dieses Ich unbewusst, wie auch dem Menschen ein großer Teil seines Ichs nicht bewusst ist, womit Psychologie und Psychoanalyse sich dann herumschlagen. Da nun der Grund-Zustand des Bewussten so gut wie jede psychische Leistung erfassen kann, wird auch der wichtigste Teil unseres Ichs bewusst.

Die moderne Hirnforschung hat ein bewusstes Ich zur Illusion erklärt, weil sich im Hirn des Menschen kein zentraler, fixer Ort ausmachen lässt, der alles, was wir tun und denken, steuert - kein Humunkulus gewissermaßen. Doch wer behauptet eine solche Absurdität? Selbst Lieschen Müller weiß, dass zwischen ihrem Gefühl und ihrer Vernunft, zwischen ihrem Denken und Sprechen, zwischen ihrem Wollen und Können usw. gravierende Differenzen bestehen. - Wie ein bewusstes Ich entsteht und wie es mit seinem unbewussten Part kooperiert, behandle ich in einem eigenen Kapitel meines Buches.

"Neue Handlungsoptionen entstehen"

Was also bedeutet das Entstehen eines bewussten Ichs für die Gesamtpsyche? - Vor allem entsteht damit zum ersten Mal in der Geschichte des Lebens ein zentrales Oben, auch wenn diese Zentrale durchaus widersprüchlich in sich prozessiert. Die Bewusstheit des Teil-Ichs erlaubt darüber hinaus, wichtige End-Resultate des permanenten, unbewussten Denkens als Intuition, Fantasie, spontanes Verhalten und Spracheingebung - erstens - überhaupt zu registrieren, zweitens beliebig oft und gründlich zu prüfen und zu korrigieren und drittens über die weitere Verwendung zu entscheiden. Kurz: Das Gesamtverhalten des Menschen wird zwar konfliktbeladener, aber auch unendlich reicher und vielfältiger, so dass neue Handlungsoptionen entstehen.

Gleichzeitig kann unser Verhalten, wenn auch noch so geprägt vom Unbewussten, wesentlich konziser gesteuert werden. Vor allem aber wird durch Bewusstheit die ungeheure Leistungsfähigkeit des Unbewussten und sein unerschöpfliches Material für die Kreativität des Menschen erst zugänglich und kritisch verwendbar.

"Dualistische Spaltung"

Können Sie uns die Beziehung zwischen Gefühl, Vernunft, Fantasie, Kunst, Religion, und Wissenschaft erläutern?

Alexander Braidt: Die Beziehungen zwischen diesen selbst schon vielschichtigen Begriffen sind dermaßen komplex, dass sich die Frage in diesem Rahmen nicht beantworten lässt. Um wenigstens ein Beispiel zu geben, greife ich das Begriffspaar Religion - Wissenschaft heraus. Wenn wir von den Vorläufern unserer Hoch-Religionen ausgehen - von Animismus und Spiritualismus - dann stellen wir fest, dass Religion eine frühe Form der Welterklärung ist, die einen von der sinnlich erfahrbaren Welt völlig unabhängigen Geist unterstellt. Fundamental ist also die dualistische Spaltung zwischen Geist, Seele oder Gott einerseits und der materiellen Welt andererseits.

Aus heutiger Sicht ist diese Sichtweise gut erklärbar: Die Frühmenschen waren noch so sehr eingebunden in die Natur, hatten noch so wenig Wissen über deren inneren Aufbau und Funktionieren, dass sie eine fundamentale Eigenerfahrung auf die gesamte Natur übertrugen: Die Eigenerfahrung nämlich, dass sie selbst und ihr Körper von Bedürfnissen, Trieben, Ahnungen, Stimmungen, Eingebungen usw. beherrscht wurden, die sie weder sehen noch fassen und denen sie auch keinen Ursprung zuordnen konnten.

"Entstehungskern der Religionen bleibt gleich"

Es waren für sie deshalb je nach ihrer Erscheinungsweise verschiedenste Geister - vor allem gute oder böse -, die einer völlig anderen, jenseitigen Welt angehören. Da die Natur, belebte wie unbelebte, unerklärliche und staunenerregende Phänomene zeigt, lag nahe, dass auch die Erde und alles Leben auf ihr von verschiedensten Geistern beherrscht würden. Obwohl aus den Geistern im Laufe der Zivilisationsentwicklung äußerst spezielle Götter und aus den Göttern der eine, total abstrakte Gott wurde, aus fantastischen Geschichten und Mysterien Mythen und Legenden und aus diesen wiederum ausgeklügelte Theologien wurden - der Entstehungskern blieb sich gleich.

" Vage Gesamtresultate des Unbewussten werden als Gefühle bewusst"

Alle Religionen wurzeln in dem Grunddogma, dass dem Gefühl von der Existenz einer überirdischen Macht auch eine Wirklichkeit entspreche. Das Gefühl hat nun die verführerische Eigenschaft, dass es eine stärkere Überzeugungskraft als die Vernunft besitzt und niemand weiß, wo es herkommt und wie es entsteht. Es ist einfach da. Welchen Wirklichkeitsgehalt und welche Sicherheit können Gefühle, Intuitionen und Ahnungen aber beanspruchen?

Dazu muss man eine Vorstellung haben, wie sie entstehen. Die Hirnforschung hat sich bisher außer mit den spezifischen Erscheinungsformen von Gefühlen (wie Wut, Trauer, Mitleid usw.) nur mit ihrer Beziehung zum Körper beschäftigt. Was wir grundsätzlich zu ihrem Entstehen sagen können, ist dies:

Unser Gehirn bekommt über die Sinnesorgane und sein Gedächtnis wesentlich mehr Informationen zugeleitet, als selbst nach deren Verarbeitung zu mehr oder minder stabilen Informationsmustern bewusst werden können. Schon der Körper höherer Tiere und selbstverständlich auch unserer muss aber wissen, wie spezifische Farben, Geräusche, Tasteindrücke und Gerüche, wie komplexe Geschehnisse und deren Erinnerung zu bewerten sind: als gefährlich oder ungefährlich, als unangenehm oder angenehm, als trostlos oder hoffnungsvoll usw. Großhirne sind dermaßen leistungsfähig, dass all diese milliardenfachen Teilinformationen wechselwirkend, selbstregulierend und selbstorganisierend auf mehr oder minder bestimmte Ergebnisse zu prozessieren.

Da es sich um einen hyperkomplexen, evolutionären Prozess mit puren Informationsmustern handelt, kann er nicht logisch und kausal nachvollzogen oder gar bewusst werden. Nur seine vagen Gesamtresultate werden uns bewusst als - Gefühle. Gefühle sind daher unverzichtbar fürs Überleben, aber keineswegs ein Garant für absolute Richtigkeit.

"Ein stets bestärktes Gefühl überprüft nicht, es glaubt"

Und so wie die Frühmenschen etwaige Gefahrensituationen und andere Menschen zuallererst durch Gefühle beurteilten, so wurde auch die Welterfahrung als Ganzes gefühlsmäßig beurteilt; und dieses Gefühl sagte unbedrängt von jeder Wissenschaft: Überirdische Geister beseelen und beherrschen die Welt und den Menschen. Ein stets bestärktes Gefühl überprüft auch nicht, es glaubt und zwar absolut.

Die Logik und Vernunft, die mit den fantastischen Kreationen jedes Aberglaubens zweifellos verbunden sind, vor allem dann in den Hochreligionen, sind dagegen stets nachträglich in diese Gefühle, Intuitionen und Ahnungen hineingetragen und - konstruiert, keineswegs aus Fakten abgeleitet worden. Aus der Religion ist im Laufe der Kulturentwicklung die Philosophie, aus der Philosophie die denkende Wissenschaft und aus ihr die experimentelle Wissenschaft hervorgegangen. Warum, würde hier zu weit führen.

"Keine Erkenntnis wird als absolut und unhinterfragbar gesetzt

Uns muss die Beobachtung genügen, dass die Welterklärung der modernen Wissenschaft exakt umgekehrt vorgeht: Sie überträgt nicht Gefühle ungeprüft auf die Welt der Tatsachen, sondern sie gewinnt Ordnung und Regeln, ja Gesetze aus empirischen Tatsachen; ein Prozess der stets von neuem wiederholt und verbessert werden kann. Bereits hier spielen Intuition, Fantasie und Ahnung eine unverzichtbare, ja entscheidende Rolle - aber als Mittel zum Zweck eines verstandesmäßigen Ergebnisses und nicht als vorausgesetzte Gewissheit.

Aus diesem Vorgehen und seinen immer wieder zu bestätigenden Ergebnissen gehen dann erst ein höheres Gefühl der Gewissheit, der Sicherheit und der Überzeugung hervor. Die moderne Wissenschaft hat also die allgemeinste Eigenschaft der Welt, die Wechselwirkung in und zwischen all ihren Teilen, zu ihrer ureigensten Methode gemacht: Zwischen Empirie und Theorie, zwischen Vernunft und Gefühl besteht eine unaufhörliche Wechselwirkung aufgrund von Kritik und Experiment. Keine Erkenntnis wird als absolut und unhinterfragbar gesetzt, nur die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit elementarer Aussagen steigt.

"Religion und Wissenschaft sind gänzlich unvereinbar"

Gerade entgegengesetzt verhält es sich mit der Religion: Sie geht aus von dem bloßen Grundgefühl, dass eine unhinterfragbare, weil von tiefstem Gefühl getragene Wahrheit gelte: die Existenz einer überirdischen Macht. Doch diese Wahrheit wird für absolut und unüberprüfbar gehalten. Die fantastischen Eingebungen auf dieser Grundlage - die im Unbewussten eine unerschöpfliche Quelle finden - werden erst im Nachhinein mit Konstruktionen aus Vernunft, Logik und Geboten überzogen. Da die Wahrheit des Grundgefühls absolut zu sein scheint, findet nie eine echte Wechselwirkung zwischen höherer Eingebung und vernunftgeprüfter Erfahrung statt. Religion beginnt mit einem absolut gesetzten Gefühl und endet bei ihm. Sie kreist trotz aller mannigfaltigen, ideologischen Entwicklung in sich selbst.

Daher sind Religion und Wissenschaft gänzlich unvereinbar: Religion wurzelt in einem Glaubensgefühl, dessen Gehalt durch kein einziges, weltliches Faktum bestätigt werden kann - und setzt es absolut. Wissenschaft setzt weder ein Gefühl für Sachverhalte noch Vernunft und Logik absolut, sondern nähert sich Wirklichkeit und Wahrheit asymptotisch durch das unbegrenzte Wechselspiel zwischen Hypothese und Experiment an. Wenn in jüngerer Zeit die Religion immer widerstandsloser alle Erkenntnisse der Wissenschaft anerkennt, gleichzeitig aber für eine friedliche Koexistenz der immer offenkundiger sich ausschließenden Welterklärungen plädiert, so kündet dies nur von einem: dem schmerzhaften Todeskampf der Religion zumindest in vielen hochtechnisierten Ländern.

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