Konstruktion eines Staates

Wie Syrien entstand

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Noch während des Ersten Weltkrieges einigten sich Frankreich und England auf eine Aufteilung des an der Seite Deutschlands und Österreichs kämpfenden Osmanenreiches: Dem nach zwei Diplomaten benannten Sykes-Picot-Geheimabkommen zufolge sollte die englische Kontroll- und Einflusssphäre die Gebiete von Transjordanien bis ins Zweistromland und die französische die Levante und Südostanatolien bis nach Mossul umfassen. Für Palästina war mit Ausnahme des von den Briten beanspruchten Gebiets um die Hafenstadt Haifa eine internationale Verwaltung vorgesehen.

Damit hinterging das Empire seinen in Mekka ansässigen Verbündeten Hussein, dem es als Gegenleistung für Terroranschläge auf osmanische Truppen und Angriffe auf Eisenbahnlinien ein unabhängiges Arabien unter Herrschaft einer Haschemitendynastie in Aussicht gestellt hatte, das erst dort seine Nordgrenze finden sollte, wo die arabische Sprache auf die kurdische und die persische stößt: Obwohl Husseins Sohn Feisal militärisch durchaus erfolgreich war und unter anderem Damaskus eroberte, fiel das Gebiet, in dem er schließlich herrschen durfte, deutlich kleiner aus, als er sich das vorgestellt hatte.

Nachdem England und Frankreich auf der Konferenz von San Remo ihre Ansprüche konkretisierten vertrieben französische Truppen Feisal 1920 aus der heutigen syrischen Hauptstadt nach Mesopotamien, wo ihn die Briten als Vasallenkönig gewähren ließen. Abdallah, der kleine Bruder Feisals, durfte diese Rolle ab 1921 in Transjordanien spielen. Den Wunsch des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, dass man den Willen der Bevölkerung in den ehemals osmanischen Gebieten ermitteln solle, ignorierten die britischen und französischen Diplomaten ebenso wie sie dessen Forderungen nach einem Selbstbestimmungsrecht der Völker bei den neuen europäischen Grenzziehungen außer Acht ließen.

In dem vom Völkerbund Frankreich zugesprochenen Mandatsgebiet sprachen die Bewohner zwar weitgehend die gleiche Sprache, gehörten aber unterschiedlichen Religionen mit jeweils regionalen Schwerpunkten an. Anhand dieser Schwerpunkte versuchte man es in mehrere regionale Einheiten aufzuteilen: Den Libanon für Christen, das (1927 in Dschebel ad-Duruz umbenannte) Gebiet Souaida für Drusen und Latakia für die (nicht mit den türkischen Aleviten identischen) Alawiten. Letztere hängen einer nicht missionierenden Religion an, die ebenso wie die drusische einen starken Volksidentitätscharakter aufweist.

Ebenfalls eine selbständige Verwaltungseinheit wurde der stark türkisch geprägte Sandschak von Alexandrette, ein nördlich von Latakia gelegener Küstenstreifen um die Städte Iskenderun und Antakya. Den überwiegend sunnitisch bewohnten Rest des Landes teilte man in eine Südhälfte mit der Hauptstadt Damaskus und eine nördliche mit dem Verwaltungszentrum Aleppo, die 1925 zu Syrien vereinigt wurden. Den nicht arabisch- oder türkischsprachigen Minderheiten (Armenier, Assyrer, Kurden und Tscherkessen) wurden keine eigenen Gebiete zugewiesen.

Die fünf „Staaten“ und der Sandschak waren alles andere als homogen: So siedelten beispielsweise die Drusen nicht nur in Souaida, sondern auch im libanesischen Schufgebirge und im Golan und Alexandrette zählte so viele Alawiten, dass die Türken dort nur eine relative Mehrheit bildeten. Im Libanon meinte es die katholische Kolonialmacht möglicherweise etwas zu gut mit dem Staatsvolk und schloss im Norden und Osten so viele ganz überwiegend schiitische und sunnitische Gebiete mit ein, dass die Maroniten und andere christliche Konfessionen ihre Macht dort mittlerweile weitgehend verloren haben. Dafür sind im heutigen Syrien etwa 15 Prozent der Bevölkerung Christen.

Die Aufteilung des französischen Kriegsgewinns im Nahen Osten konnte einen im Drusengebiet beginnenden und von 1925 bis 1928 dauernden großen Aufstand nicht verhindern, was einer der Gründe dafür war, dass die französische Politik 1936 den Anschluss des Dschebel ad-Duruz und Latakias an Syrien in die Wege leitete und nur mehr den Libanon auf eine getrennte Unabhängigkeit zusteuern ließ. Den Sandschak von Alexandrette trat Paris (auch deshalb, um den Nachfolgestaat des Osmanenreiches von einer Parteinahme für Deutschland abzuhalten) 1939 an die Türkei ab, worauf hin zahlreiche der in dem Gebiet ansässigen Armenier in den Libanon flüchteten.

Nachdem der aufseiten Charles de Gaulles kämpfende General Georges Catroux das restliche französische Gebiet Anfang der 1940er Jahre mithilfe britischer Truppen eroberte, ließ er zwar die Unabhängigkeit Syriens und des Libanon ausrufen, behielt aber faktisch die militärische und politische Aufsicht, die bis 1946 andauerte.

Kurz danach fand in Damaskus das erste Treffen der Baathisten statt, einer Bewegung, die zum Ziel hatte, den arabischen Sprachraum von Marokko bis in die persische Provinz Khusistan in einem Staat zu einen. Die verschiedenen Religions- und Herkunftsidentitäten sollten gegenüber der verbindenden Schrift und Hochsprache in den Hintergrund treten, was die Ideologie auch für Angehörige von Minderheiten wie den Alawiten attraktiv machte.

Ein erster panarabischer Zusammenschlussversuch zwischen Syrien, dem damals von Gamal Abdel Nasser beherrschten Ägypten und dem Nordjemen fand 1958 allerdings ganz ohne Zutun der damals noch relativ machtlosen Partei statt. Das Experiment dauerte jedoch nur bis 1961. Zwei Jahre darauf putschte die Baath-Partei, die sich nun eine relativ starke Basis beim Militär geschaffen hatte. 1966 setzte sich ein Parteiflügel durch, der angesichts der Unterstützung Israels durch die USA auf eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Sowjetunion setzte.

1970 kam nach weiteren internen Machtkämpfen der aus dem Latakia-Gebiet stammende Alawit Hafiz al-Assad an die Macht, die er bis zu seinem Tod am 10. Juni 2000 behielt und an seinen Sohn Baschar al-Assad weitervererbte. Obwohl der Baathist den schon in den 1970er Jahren erstarkenden radikalen Sunniten Zugeständnisse machte und den Islam zur Basis der Gesetzgebung erhob, verübte die im Untergrund operierende Moslembruderschaft Terroranschläge, die vor allem auf Alawiten zielten, deren Zugehörigkeit zum Islam schon im Steuerrecht des Osmanischen Reiches in Frage gestellt wurde.

1982 brachten die Moslembrüder zeitweise die sunnitische Stadt Hama unter ihre Kontrolle. Nach ihrer Wiedereroberung, die einen hohen Blutzoll forderte, griff Assad hart gegen politische Kräfte außerhalb der Blockparteien durch. Auch Daraa, das Zentrum des aktuellen Aufstandes in Syrien, ist stark sunnitisch geprägt, während sich unter den Sicherheitskräfte zahlreiche Angehörige des alawitischen Matawira-Stammes finden, was die Gegensätze potenziell verschärft.

Einige Beobachter, wie etwa Oytun Orhan vom Orsam-Zentrum für strategische Nahost-Studien in Ankara, sehen in gegen Alawiten gerichteten Slogans wie „Wir wollen Moslems, die an Allah glauben“ eine stärker salafistisch geprägte Ausrichtung der Proteste als in anderen arabischen Länder. Andererseits regt sich auch Widerstand im alawitischen Latakia und unter Bloggern, die teilweise konfessionelle Gegensätze ebenso verneinen wie eine Nähe zur Religion überhaupt. Wie bedeutend die Rolle der beiden Gruppen am Aufstand jeweils ist, wird die Zukunft zeigen.

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