Streichelnd den Klimawandel studieren

Al Gores Multimedia-Buch "Our Choice" als Avantgarde zukünftiger Lehrmittelpublikationen

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Die iPad- und iPhone-Version von Al Gores Buch über den globalen Klimawandel ist eine Publikation, die unter anderem aus pädagogischer Sicht Beachtung verdient. Das Manko, direkt am Werk Reflexionsarbeit leisten zu können, entlarvt das Multimedia-Buch jedoch als politische Propaganda.

Al Gore will aufklären und er hat ein Gespür fürs Geschäft mit dem Klima. Der Kandidat für das US-Präsidium im Jahr 2000 hat auch ein Gespür für neue Medien und Technologien. Während seiner Zeit als Vizepräsident von Bill Clinton wurde er unter anderen vom Netz-Lifestyle Magazin "Wired" als eine der prominentesten Stimmen in Technologie-Debatten gefeiert und beobachtet.

Alle Screenshots aus dem Video von Push Pop Press über die Al Gores App

Nun erhebt Gore abermals zum Thema Klimaerwärmung seine Stimme. Seit Ende April ist zusätzlich zum klassischen Buch "Unsere Wahl" die englische App Our Choice für das iPhone und das iPad erhältlich. Das Buch gibt es zwar schon lange auch elektronisch für das Lesegerät Kindle von Amazon. Dank Audio- und Video-Kommentaren erhält Gores Stimme bei der App für das iPad und iPhone jedoch deutlich mehr Nähe zum Empfänger. Damit eröffnet Gore einen neuen Kommunikationsvektor, um sich Gehör für seine politische Mission zu verschaffen. Zugleich wurde ein Medienartefakt geschaffen, das für den Bildungsbereich verschiedenster Stufen und für unterschiedliche Inhalte eine Vorreiterrolle spielen könnte.

Pergamentrolle mit Collagen

Ebenso wie andere iPad- und iPhone-Publikationen wird auch "Our Choice" selbsternannte Experten von neuen Technologien und Multimedia nicht aus den Socken hauen. Es gehört heute zum guten Ton, dass eine App Text mit Bildern, interaktiven Grafiken, Videos und Audio-Kommentaren sowie weiteren Gimmicks kombiniert.

Das Touch-Tablet und Smart-Phone von Apple haben eine Renaissance von Multimedia-Publikationen lanciert, wie sie im Zeitalter der CD-ROM in den Neunzigerjahren entwickelt und vermarktet wurden. Beispiele dafür sind Murdochs tägliches Newsmagazin "The Daily" und das Monatsmagazin The Collection vom Schweizer Ringier-Verlag, die beide allerdings nur für das iPad erhältlich sind.

Bemerkenswert beim multimedial frisierten E-Book von Al Gore sind die Liebe zum Detail und die Eleganz, die sowohl bei der grafischen Gestaltung und der Bildredaktion, als auch beim Interaktions-Design erkennbar sind. Manche Multitouch-Gesten, diese für Smartphones und Tablets charakteristischen Interaktions- und Eingabemethoden, wurden mit neuen Arten von Reaktionen versehen. Dafür haben zwei ehemalige Apple-Ingenieure gesorgt, die mit ihrem Startup Push Pop Press gemäß Selbsteinschätzung "eine neue Generation von E-Books" erarbeitet haben.

Tatsächlich gibt es einige Dinge, die auch Heavy-Usern unter den Multitouch-Mediennutzern als neu und innovativ auffallen dürften: Anstelle des virtuellen Seitenblätterns zum Beispiel haben sie sich für eine Metapher entschieden, die Eigenschaften des Buches mit denjenigen der Pergamentrolle kombinieren. Befindet man sich auf einer Seite oder auf einer Sektion der Rolle, ist die kommende und vergangene Seite oder Sektion angeschnitten erkennbar. Das schafft Orientierung. Man erkennt, ob auf der nächsten Seite nur Text folgt, eine Textbild-Seite oder ein ganzseitiges Bild.

Auf den einzelnen Seiten findet man Bilder oder Grafiken in Form von gefalteten Blättern. Wie bei einer Collage oder 3D-Kinderbüchern können diese Einzelblätter mit Spreizen der Finger aufgefaltet werden. Diese Zoom-Geste, die üblicherweise den gesamten Inhalt des Bildschirms vergrößert, faltet hier lediglich das "aufgeklebte" Inhaltselement auseinander, so dass es den ganzen Bildschirm der Schiefertafel von Apple füllt. Bei anderen Medien-Apps wird dafür in der Regel ein Tippen oder Doppeltippen eingesetzt.

Wie im Werbespot am Ende der Seite erkennbar, weicht die App auch beim Öffnen einer Seite via Navigation beim Userinterface vom sonstigen E-Book-Mainstream ab. Auch dort kann die Zoom-Geste anstelle eines Tippens eingesetzt werden. Dies erhöht ein fließendes Gefühl beim Öffnen einer Seite, weil man die Miniatur-Seiten aus der Navigation regelrecht aufzieht. Für die Gewohnheitstiere unter den iPad- und iPhone-Lesern bietet die App aber auch die Möglichkeit via Doppeltippen durch die Inhalte zu navigieren. Auf dem kleineren iPhone-Bildschirm ist diese Methode benutzerfreundlicher.

Frontalunterricht

Schüler der Mittelstufe hätten sicherlich Spaß an dieser Form der Wissensvermittlung. Als Teil der Klimalehre im Rahmen des Geografieunterrichts ist die App-Version von "Our Choice" garantiert ein spannender Einstieg. Allenfalls lässt sich damit auch ein Start in das Klimatologie-Studium versüßen.

Das Werk des Politikers Al Gore verfügt als didaktisches Mittel jedoch über eine krasse Schwäche. Von diesem Manko ist nicht einmal das gute alte Papierbuch betroffen: Man kann "Our Choice" auf iPad oder iPhone nur konsumieren und nicht daran arbeiten. Ein Buchzeichen setzen, so wie dies die meisten sonstigen E-Book-Programme anbieten? Geht nicht. Notizen anbringen oder Textpassagen anstreichen? Fehlanzeige. Fachbegriffe anwählen und zum Beispiel via Kontext-Links auf Wikipedia anzeigen lassen? Gibt es nicht. Inhalte via Facebook oder Twitter teilen und damit Diskussionen anregen? Leider nein. Verknüpfungen zu Antithesen von Klimaskeptikern folgen? Vergiss es!

Im Jahr 2009 erschien "Unsere Wahl" in Buchform. Die von Al Gore ausgewählten wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Klimawandel wirkten dem Medium entsprechend trocken und höchstens für Geografie- und Klimafans unterhaltsam. Emotionale Regungen wurden beim Leser allenfalls wegen des heißen Themas provoziert. Bei der elektronischen Version für das iOS von Apple verhält es sich anders: Die wohlklingende Stimme Al Gores hat Überzeugungskraft und ist voll von natürlicher Autorität. Seine sympathische, vernünftige und positive Ausstrahlung bei den Videoclips ziehen den Nutzer in den Bann. Der User verkommt zum intellektuell passiven Zuschauer trotz des interaktiven Trägermediums. Dieses Werk ist unter anderem auch ein brillantes Stück politische Propaganda.

Touch-Tablets an die Schulen

Wäre "Our Choice" nicht derart in sich verschlossen und würde diese App erweitert, um direkt am Objekt eigene Arbeit leisten zu können, wäre einem Einsatz als Lehrmittel wenig entgegenzuhalten. Mit entsprechender Reflexion und kritischer Begleitung kann die App in seiner aktuellen Form jedoch schon heute ein wertvolles didaktisches Mittel sein. Zumindest würde es sich lohnen, damit zu experimentieren und über den Einsatz von Tablets im Unterricht pädagogische Forschung zu betreiben. Die App ist mit 3,99 Euro erschwinglich. Nur eine Minderheit von Schülern und Studenten in Europa leisten sich heute ein Smartphone. Tablets sieht man an den Unis noch seltener. Angesichts der Finanzsituation der europäischen Staaten ist die Idee kaum en Vogue, Tablets für Schüler zu subventionieren, um in die Bildung und Medienkompetenz junger Menschen zu investieren.

Marc Böhler ist freier Autor und Berater und er moderiert Medienkompetenz-Kurse für Kinder und Jugendliche. Er lebt in Zürich.