Forschung im Schatten der Pharmaindustrie

Einflussnahme auf klinische Studien ist ein zunehmendes Problem für Forschung und Patientengesundheit. Doch der Gesetzgeber bleibt untätig

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Manipulationen durch die Pharmaindustrie werden zunehmend zu einem Problem klinischer Forschung und von Fachpublikationen. Nun fordern Experten eine striktere Politik von den Redaktionen. Sollte sich herausstellen, das Forschungsarbeiten auf manipulierten Daten beruhen, müssten die entsprechenden Studien zurückgezogen werden, um weiteren Schaden zu vermeiden.

Anders als in der Tagespresse, in der Gegendarstellungen und Richtigstellungen juristisch abgesichert sind, existiert in der medizinischen Fachpresse kein Zwang zur Korrektur. Dabei ist gerade die pharmazeutische Publizistik in den vergangenen Jahren zunehmend ins Visier wirtschaftlicher Interessen geraten. Nachbesserung und allgemeingültige Regeln tun Not, meinen Experten - und verweisen auf die potentiell schwerwiegenden Folgen der Manipulationen in der Arzneimittelforschung.

In einem Leitartikel führte das Fachblatt arznei-telegramm unlängst mehrere Fälle solcher Einflussnahmen auf. Durch nachträgliche Veränderungen der Parameter in pharmazeutischen Studien seien wiederholt zunächst nach negativen Testergebnissen vermeintlich positive Resultate erzielt worden, schreiben die Autoren. Dies sei bei Celecoxib, einem Arzneistoff zur Behandlung degenerativer Gelenkerkrankungen, ebenso der Fall gewesen wie bei Zoledronat, das gegen den Abbau von Knochengewebe eingesetzt wird.

In vielen der publik gewordenen Fälle stehen hinter der Einflussnahme wirtschaftliche Interessen Beteiligter. Das Fachmagazin verweist auf anonyme Befragungen, denen zufolge bis zu 34 Prozent der Wissenschaftler "Veränderung von Design, Methodik oder Ergebnissen einer Studie auf Anforderung oder Druck des Sponsors" eingestehen. Zugleich gewinne das Problem an Brisanz, heißt es im arznei-telegramm: "Wurden zu Beginn der 2000er Jahre nur vereinzelt Studien einkassiert, sind es 2009 mehr als 50 von den in der US-amerikanischen Medizin-Datenbank PubMed gelisteten Arbeiten" gewesen. Durch die bewussten Veränderungen der Ergebnisse steigt immer auch die Gefahr von Behandlungsfehlern, weil sich Ärzte bei Therapieentscheidungen auf Fachpublikationen stützen.

Ghostwriter in Dienst der Pharmaindustrie

Ein international viel beachteter Fall der Studienmanipulation war im Sommer 2009 durch die Presse gegangen. Damals enthüllte die New York Times, dass der US-Pharmakonzern Wyeth - inzwischen Teil des Unternehmens Pfizer - Ghostwriter zahlreiche positive Beiträge über die Hormonersatzpräparate Premarin und Prempro verfassen ließ. Das Medikament war Millionen Frauen in der Menopause gegen Beschwerden wie Hitzewallungen oder Tachykardie verabreicht worden.

Die NYT verwies auf insgesamt 26 Beiträge in 16 Fachblättern, bei denen Studien selektiv ausgewertet wurden, um zu einem positiven Ergebnis zu kommen. Die Texte stammten allesamt von Mitarbeitern von PR-Firmen und wurden auch noch verbreitet, als negative Folgeerscheinungen der Behandlung bereits publik geworden waren. Als schließlich bekannt wurde, dass die Beiträge von bezahlten Autoren geschrieben worden waren, setzte sich der Konzern mit namhaften Wissenschaftlern in Verbindung, um die Fremdtexte von ihnen unterzeichnen zu lassen - meist ohne Widerspruch.

In der Folge des Skandals war in der Branche zum wiederholten Male der Einfluss von PR-Firmen auf die Fachpresse diskutiert worden. In einem Debattenbeitrag für das Open-Source-Magazin Public Library of Science - Medicine (PLoS Medicine) plädierte der dänische Medizinforscher Peter C. Gøtzsche dafür, die Einflussnahme der Pharmaindustrie auf die Fachpresse stärker zu kontrollieren. "Das Ghostwriting kommt einer wissenschaftlichen Irreleitung gleich, mit der entsprechend umgegangen werden sollte", schrieb Gøtzsche. Durch die Beeinflussung der Industrie werde das Vertrauen in wissenschaftliche Publikationen und Forschung systematisch untergraben. Auch der schwedische Forscher verwies auf die wirtschaftlichen Interessen von Pharmaunternehmen, die durch die Manipulation "Milliarden Dollar" einspielten.

Forderung nach unabhängiger Forschung

Auch in Deutschland werben Fachinstitutionen für ein größeres Problembewusstsein. "Die Gefahr, dass Studien in Folge kommerzieller Interessen von pharmazeutischen Unternehmen beeinflusst werden und die Ergebnisse derartiger Studien dadurch einen schädlichen Einfluss auf die Behandlung von Patienten haben, besteht auf jeden Fall", bestätigte im Gespräch mit Telepolis auch der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), Wolf-Dieter Ludwig.

Dem Berliner Mediziner zufolge verdeutlichen zahlreiche Untersuchungen, unter anderem eine 2010 veröffentlichte Literaturübersicht der Arzneimittelkommission, dass sich die Finanzierung durch pharmazeutische Unternehmen auf verschiedene Bereiche der Arzneimittelstudien auswirkt. "Diese Studien haben weitaus häufiger ein für das Unternehmen günstiges Ergebnis als aus anderen Quellen finanzierte Studien", bekräftigt Ludwig. Eine Manipulation der Arbeiten, etwa durch die Veränderung von Endpunkten, werde mitunter erst nach Jahren entdeckt. "Und dann dauert es sehr lange, bis diese Daten aus den Zeitschriften verschwinden", fügte der AkdÄ-Chef an.

Nach Angaben Ludwigs, der seit 1999 der Arzneimittekommission angehört, hat die Beeinflussung klinischer Studien durch pharmazeutische Unternehmen in den vergangenen Jahren zugenommen. "Es geht heute um sehr viel Geld und wir müssen beachten, dass die Pharmaindustrie inzwischen nur noch wenige echte Innovationen hervorbringt", führt der Experte aus. Angesichts der vielen Konkurrenzprodukte seien die einzelnen Unternehmen immer mehr darauf angewiesen, ihr Produkt in einem möglichst guten Licht erscheinen zu lassen - "auch wenn die Ergebnisse klinischer Studien anders aussehen".

Jährliche Schäden in Milliardenhöhe

Wissenschaftliche Institutionen und Kontrollinstanzen wie die AkdÄ werden zunehmend in Abwehrkämpfe verwickelt, obgleich Antikorruptionswächter seit Jahren auf die zunehmenden Probleme hinweisen.

Bereits Mitte 2006 veröffentlichte die Organisation Transparency International (TI) einen Bericht, demzufolge vor allem durch den Einfluss der Pharmaindustrie klinische Studien gefälscht, Behörden beeinflusst und Risiken unterschlagen werden. Den jährlichen Schaden in Deutschland beziffert TI auf der Internetseite der Organisation auf bis zu 20 Milliarden Euro.

TI-Gesundheitsexperte Peter Schönhöfer wies auch auf den Widerspruch zwischen realen Innovationen und dem Profitstreben der Industrie hin. Von 1990 bis 2006 seien nur sieben von 450 auf den Markt gebrachten Arzneistoffen echte Neuerungen gewesen. Rund 25 dieser Stoffe könnten noch als sogenannte Schrittinnovationen gewertet werden, also Weiterentwicklungen bereits vertriebener Stoffe. Um diese Pharmazeutika zu verkaufen, würden nicht nur Studien manipuliert. In anderen Fällen würden auch ärztliche Fortbildungen zu Werbezwecken missbraucht und Rabatte für im Grunde unnötige "neue" Präparate eingeräumt, um sie auf dem Markt zu platzieren. Transparency International forderte schon 2006 schärfere Gesetze und eine öffentliche Debatte über die Folgen der zunehmenden Verstrickung von Industrie und Forschung - bislang ohne nennenswerte Resonanz.

Nach Ansicht von AkdÄ-Chef Ludwig müssten auf verschiedenen Ebenen Maßnahmen ergriffen werden. "Eine unserer Forderungen ist die verstärkte finanzielle Unterstützung klinischer Forschung in Deutschland". Dafür fehlten jedoch die öffentlichen Gelder. Aber auch medizinische Fachzeitschriften müssten ihre Vorgehensweise überdenken:

Wenn sie merken, dass Daten manipuliert oder sogar gefälscht wurden, müssen sie dies sofort auf sehr deutliche Art und Weise publik machen, die betroffenen Artikel müssen aus dem Verkehr gezogen werden.

Derzeit gebe es dahingehend noch keine international gültigen Richtlinien, wie dies etwa bei der Erklärung von Interessenkonflikten der Fall ist. So bleibt es weiterhin Bloggern wie den US-Experten Adam Marcus und Ivan Oransky überlassen, die auf Retractionwatch die Rücknahmen manipulierter Studien verfolgen.