Bestürzt über den möglichen Sturz

Syriens Diktatur zittert - und mit ihr die fünf Nachbarstaaten

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Wie fiktiv die Rede vom „isolierten Syrien“ ist, wird dieser Tage deutlicher denn je. Tatsächlich mischt die Diktatur bei nahezu allen Konflikten des Mittleren Ostens mit. Nun ist die Diktatur bedroht. Prompt stehen alle Konfliktparteien geschlossen - hinter der syrischen Regierung.

Es hat, im Unterschied zu Libyen, kaum Öl, misst nur 185.000 Quadratkilometer (Jemen: 530.000 Quadratkilometer) und zählt 22 Millionen Einwohner (Ägypten: 80 Millionen) - dennoch bezeichnet Joshua Landis, Direktor des Center for Middle East Studies und Politikprofessor an der Universität Oklahoma, Syrien als das „Cockpit“ des Mittleren Ostens. Zu Recht. Syrien grenzt an den Irak, den Libanon, Israel, Jordanien und die Türkei und wirkt auf alle fünf Staaten politisch oder wirtschaftlich ein.

So streute Damaskus der US-geführten Invasion in den Irak ab 2003 Sand ins Getriebe, indem es die dortigen Aufständischen unterstützte und sich dabei selbst aus der Schusslinie der überforderten Bush-Administration zog. Den Vorwurf, es habe seine 605 Kilometer lange Grenze zum Irak nie ausreichend gesichert, sendet Damaskus heute postwendend zurück: Der Irak würde Syriens Demonstrierende mit Waffen beliefern.

US-Truppenabzug soll nicht gefährdet werden

Ein Szenario, das vermutlich nicht zutrifft, im Falle eines Regimesturzes aber sehr real werden könnte: Kaum eine konfessionelle oder ethnische irakische Gruppierung und deren jeweilige Hintermänner (von Iran über Saudi-Arabien bis nach Europa und in die USA) würde Syriens politische Zukunft nicht prägen wollen. Eine Vorstellung, die viele lähmt, zumal der Irak und Syrien nach über 15 Jahren Feindschaft gerade wieder diplomatische Beziehungen aufnahmen - und Obamas ausgelaugte Truppen bis Jahresende die ersehnte Heimreise antreten sollen.

Die entschiedene Solidaritätsbekundung von Iraks Präsident Dschalal Talebani gegenüber seinem Damaszener Amtskollegen überrascht daher nicht.

Syrien hüstelt, der Libanon erkrankt

Auch der Libanon, der, wie der große libanesische Journalist Joseph Samaha einst bemerkte, „mit Grippe im Bett liegt, sobald Damaskus hüstelt“, hält derzeit den Atem an. Wie wenig der „kleine“ ohne den (viel gehassten) „großen“ Bruder auskommt, bewies der libanesische Bürgerkireg (1975-1990): Beirut ersuchte Syriens Hilfe zwecks Schutz der eigenen Christen und Bekämpfung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO); die Arabische Liga willigte ein - doch aus der syrischen Schutzmacht wurde binnen kürzester Zeit und für drei Dekaden der maßgebende Drahtzieher im Land. Unter anderem unterstützte Damaskus die PLO und vertrieb - nun mit Segen der USA - Christenführer Michel Aoun ins französische Exil.

Erst 2005, im Zuge der weltweiten Empörung über die Ermordung des libanesischen ex-Premiers Rafik Hariri (das lange Damaskus angelastet wurde), zog die „Schutzmacht“ wieder ab. Dass ihr Einfluss deshalb gemindert wäre, lässt sich kaum behaupten: die Hizbollah und akkurat der einst verjagte Aoun sind heute Syriens stärkste Verbündete und brachten im Januar Libanons Regierung mit Kabinettsschachzügen zu Fall. Eine Veränderung der politischen Landschaft in Syrien könnte sie in arge Bedrängnis bringen, vor allem wenn sich der Iran neue Wege für seine Waffenlieferungen an die Hizbollah suchen müsste.

Eine Vorstellung, die Tel Aviv an sich begeistern sollte, doch auch hier herrscht Unruhe - weiß Israel doch nur zu gut, dass seine Grenze zu Syrien die sicherste ist, die es hat: Seit 1973 fiel kein Schuß mehr entlang der besetzten Golanhöhen. Ob dies mit einer frei gewählten Regierung in Damaskus so bliebe, ist die Frage.

„Nahost-Union“ der Türkei gefährdet

Die Rückkoppelungen auf Jordanien scheinen vergleichsweise unbedeutender. Allerdings kämpft diese Diktatur mit einer bankrotten Wirtschaft und einer verarmten Bevölkerung. Sollte ausgerechnet dem extrem unterjochten Nachbarvolk der Befreiungsschlag gelingen, wäre der psychologische Nachhall in der ohnedies gefährdeten Monarchie nicht zu unterschätzen.

Ankara indes plagen andere Überlegungen. Angefangen von potentiellen Allianzen zwischen den syrischen und den landeseigenen Kurden bis hin zu syrischen Flüchtlingsanstürmen, die umso wahrscheinlicher sind, als zwischen beiden Ländern seit einem Jahr Visafreiheit herrscht.

Letzteres ist das Resultat einer zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Annäherung: Der Handelsaustausch zwischen der Türkei und Syrien überstieg mit einer Milliarde Dollar in der ersten Jahreshälfte 2010 die Gesamtbilanz von 2007. Auch sind eine neu ausgebaute Eisenbahnverbindung und die gemeinsam geplante „Nahost-Union“ Signale dafür, dass sich Ankara nicht nur an der EU orientieren will.

Hinzukommt ein verstärkter religiöser Austausch. Erst im Februar meldete die Anatolia News Agency, dass sich die ranghöchsten Religionsvertreter beider Länder in Ankara getroffen hätten, um ihre Kooperation in Fragen religiöser Erziehung auszuweiten.

In der Tat: Syriens Regime wirkt wie eine bedrohte Spinne in einem weitgespannten Netz, an das niemand zu rühren wagt. Zu unklar sind vor allem die Alternativen. Wer ist Syriens Opposition? Gibt es sie überhaupt?

Syriens Opposition: Terra Incognita

Junge Twitterer, die zwar hervorragende Arbeit in Sachen Bürgerjournalismus leisten, dürften kaum zur Ausarbeitung politischer Programme fähig sein. Zumal nicht wenige unter ihnen bereit zu sein scheinen, jedem zu folgen, der ihnen „freedom“ verheisst. Etwa Ausama Monajed (siehe "Die Gewalt geht vom Regime aus"). Der in London lebende 31-Jährige lancierte jüngst mit Syrern im In- und Ausland die „Initiative zur Nationalen Veränderung“, die ambitioniert mit Syriens Armeechef verhandeln will. Darüberhinaus ist er der Pressesprecher des Movement for Justice and Peace in Syria, das Washington mit sechs Millionen Dollar bedachte, wie ein unlängst veröffentlichtes Wikileaks-Dokument enthüllt.

Weit seriöser wirkt da Syriens gestandene säkulare Opposition, von Michel Kilo (siehe Eigentlich waren wir an der Reihe) bis zu Riad al-Seif. Doch mitunter jahrzehntelange Haftstrafen erschöpften, isolierten und trieben wohl jene politische Vernetzungskultur aus, die zur Erstellung eines geschlossenen Konzeptes unabdingbar ist.

Dass Syriens Freiheitskämpfer indes bereits sind, einem politisch zwar erfahrenen, aber in die Bluttaten der Diktatur zutiefst verstrickten Abdul Halim Khaddam zu folgen, erscheint mehr als unwahrscheinlich. Der einstige, nach immer mehr Macht strebende Vizeminister brach 2005 mit dem Regime und arbeitet seither aus dem Pariser Exil auf dessen Sturz hin.

Eine pluralistische Mehrheit: Die Sunniten

Bleibt die Frage nach der islamischen Opposition. Zweifelsohne gibt es sie, doch wie sieht sie konkret aus? Wie stark sind die Graswurzeln der Muslimbruderschaft, die seit 30 Jahren in Syrien verboten ist und im Exil lebt? Wie lautet ihr politisches Programm? Ihr Vorsitzender Mohammed Riad Shaqfa erklärte zwar Mitte April seine Organisation habe die Proteste weder initiiert noch schwebe ihr für Syrien das Modell eines islamischen Staates vor.

Vielmehr würde sie im Falle freier Wahlen ein Manifest vorlegen, das die Priorität auf Zivilstaatlichkeit legt und den Islam nur als „Referenz“ angibt. Syriens Christen, Drusen, Alawiten u.a. dürfte jede noch so zaghafte „Referenz“ erschrecken, vielen Sunniten hingegen entgegenkommen. Doch in welcher Färbung und in welchem Ausmaß, ist unmöglich vorauszusagen. Denn - und auch hierin unterscheidet sich dieses Land grundlegend von anderen in der Region: Syriens Sunniten sind traditionell einer eher sufistischen Islaminterpretation verpflichtet, die dem Salafitentum der Muslimbrüder völlig zuwider läuft.

Und da wäre noch: Ein Volk und „Hurrieh“

Angesichts soviel innerer wie äußerer Verschränkungen und Widerhaken scheint ein Gelingen des Kampfes um „Hurrieh“ (Freiheit) fraglich. Joshua Landis ist sich da nicht so sicher. In seinem Blog Syria Comment schreibt er:

Unlike the Iranian opposition, which did not call for the overthrow of the regime and an end to the Islamic republic, but only reform, the Syrian opposition is revolutionary. It is convinced that reform is impossible and Syria must start over. It wants an end to the domination of the presidency and security forces by the Alawite religious community, and an end to the domination of the economy by the financial elite which has used nepotism, insider trading, and corruption. In short: It is more determined and revolutionary than was the Iranian Green movement that was successfully suppressed.

Sollte Landis Recht behalten, könnte die Region demnächst eben jene „Geburtswehen eines neuen Mittleren Ostens“ erleiden, die die ehemalige US-Außenministerin Condoleeza Rice antizipiert hatte, als Israel 2006 die Stellungen und Siedlungen der schiitischen Hizbollah im Libanon gnadenlos bombardiert hatte. Diesmal erfreuen die möglichen Wehen indes keinen. Nicht die Hizbollah, aber auch nicht Israel.