Aufgeheizte Übergangsphase in Tunesien

Neue Welle von Demonstrationen und Ausschreitungen; die Polizei greift zu Gewaltmitteln des alten Regimes; Spekulationen über eine Verschiebung des Wahltermins

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Erneut wurde am Wochenende in Tunis ein Ausgangsverbot verhängt. Grund waren Gewaltausschreitungen bei Demonstrationen, die weiter die Absetzung der Übergangsregierung fordern, an der bekanntlich aus viele Politikern des früheren Regimes beteiligt sind. Die Unterschiedung zwischen dem friedlichen Teil der Demonstrationen, die in der Hauptstraße Avenue Habib Bourguiba marschierten, und dem gewalttätigen, ist offenbar zu schwierig für die Polizei - oder liegt gar nicht in derem Interesse. Ihr hartes Vorgehen und die 70 Verhaftungen begründete sie mit Banden, die Geschäfte demoliert und geplündert haben.

Gewaltsame Ausschreitungen werden auch in Ettadhamen, der ärmlichen Banlieue der Hauptstadt, gemeldet, dort sollen nach Augenzeugenberichten von Anwohnern Islamisten versuchthaben, die "Ordnung wiederherzustellen".

Ausschreitungen werden auch in kleineren Orten im Hinterland Tunesiens gemeldet, in Sidi Hassine, in den Vorstädten Tunis', Kram und La Goulette. Gegen ein Agrarzentrum in Sidi Bouzid, in Sousse sollen Appartements geplündert worden sein; Polizeistationen in Mnihla, Intilaka, Ibn Khaldoun, El-Mourouj V und in Kasserine wurden angegriffen - Kasserine war während der Januar-Revolution Schauplatz heftiger Konfrontationen zwischen Staatsmacht und Protestbewegung. In der Banlieue Slimane wurde ein Mann getötet, der nach einem Bericht von Le Monde versuchte zu verhindern, dass Teilnehmer einer Demonstration Steine gegen eine Polizeistation werfen. Woher die Kughel stammt, deren Verletzungen er erlag, ist unklar.

Allein die Aufzählung der Ausschreitungen deutet an, dass an verschiedenen Orten unterschiedliche Motive am Werke sind.

Vorgehen Polizei "problematisch" für die öffentliche Ordnung

Doch hat auch die Polizei am Wochenende mit Gewaltätigkeiten Schlagzeilen gemacht, nicht nur in Tunesien. Polizisten sind gewaltsam gegen Journalisten vorgegangen, manche wurden bis in die Redaktionsräume hineinverfolgt. Zustände fast schon wie zu Ben Alis Zeiten. Die Schergen aus der "alten Zeit", Milizen der Partei des alten Regimes RCD, werden auch für die eingangs genannten Gewaltausschreitungen verantwortlich gemacht.

Genaue Beobachter der Vorgänge in Tunesien, so etwa Astrubal, der für das unbestechliche Online-Portal Nawaat schreibt und dort aufmerksam die Entwicklungen der Pressefreiheit verfolgt, fordern politische Konsequenzen, angefangen mit dem Rücktritt des Innenministers. Diese Vorgänge würden Animositäten der Bevölkerung gegenüber der ohnehin übel beleumdeten Polizei weiter verstärken, das sei desaströs und problematisch für die öffentliche Ordnung.

Manipulationen und Wahldatum

Welche Gewaltakte auf welches Konto gehen, welche Strippen von wem gezogen werden, weiß im Moment keiner genau. Dass Manipulationen im Spiel sind, diese Möglichkeit räumte auch Premierminister Béji Caïd Essebsi am Sonntag ein. Dessen Äußerungen und politische Haltung sind allerdings im Lager der Protestbewegung sehr umstritten (siehe dazu auch: Provisorische Regierung oder Übergangsdiktatur).

Essebsis Formulierungen ließen obendrein offen, ob das festgesetzte Datum der Wahlen zu einer konstituierenden Nationalversammlung, dem 24. Juli, tatsächlich unumstößlich ist. Damit eröffnete er weitere Spekulationen. Vertrauensbildend ist das nicht. Zumal die Stimmung im Land durch Enthüllungen des entlassenen Innenministers Farhat Rajhi aufgewiegelt wurde.

Ehemaliger Innenminister spricht von der Möglichkeit eines Staatsstreiches

Rajhi, der von Ende Januar bis Ende März Innenminister der Übergangsregierung war, hatte vergangene Woche davon gesprochen, dass ein Staatscoup möglich sei. Wie auch in deutschprachigen Medien berichtet wurde, hatte Rajhi "für den Fall eines Sieges der Islamisten-Partei Ennahdha (...) bei den geplanten Wahlen die Machtübernahme des Militärs vorausgesagt". Ennahda-Chef Rached Ghannouchi reagierte mit dem Vorwurf, Rajhi habe "in einem explosiven Klima Öl ins Feuer gegossen".

Tatsächlich nährt Rajhi Ängste, mit denen der Autokrat Ben Ali Politik machte und sein despotisches Regime begründete. Doch werden seine Äußerungen unterschiedlich aufgefasst und diskutiert. Auch weil zum ersten Mal ein Politiker, der zur Regierung gehörte, offiziell aussprach, was als Verdacht schon lange kreist: Dass Politiker, mutmaßlich vor allem alte Parteikader, in Hinterzimmern Verschwörungen schmieden, um den Fortgang der Erneuerung in Tunesien Knüppel zwischen die Beine zu werfen.

Zu den Spekulation über Rajhis Äußerungen gehört auch, dass er Interessen der kommunistischen Partei (Parti des ouvriers communistes de Tunisie - POCT) bediene, da seine Äueßrungen eine Stimmung entfacht habe, die zur Verschiebung der Wahlen führen könnte, was eben auch im Interesse der POCT liegen könnte.

Nach Einschätzung des Online-Magazins Courrier International, das wie andere Publikationen auch, diese Spekulation veröffentlichte, unterscheiden sich die sporadischen Demonstrationen, die zur Zeit in Tunesien stattfinden, deutlich von den friedlichen Demonstrationen früherer Proteste - was freilich ein geschöntes Bild ist. Die jetzigen Demonstrationen, die sehr viel kleiner seien als frühere, nur mehr Hunderte Personen stark, würden "unschuldig" beginnen und sehr schnell in Gewalt umschlagen, wobei sie plötzlich auch anzuwachsen scheinen.

Welche Kräfte dahinter stecken, ob das Unzufriedene sind, welche die umstrittene Regierung abgelöst sehen wollen oder "agents provokateurs" bzw. angeheuerte Schergen des alten Regimes, ist im Augenblick noch unklar. Mitglieder der Protestbewegung rufen in Twittermeldungen zur Besonnenheit und Zurückhaltung auf.