Stumme Beteiligung

Bürgerbeteiligung ist ein heißes Eisen unserer Zeit. Doch wie sieht es konkret aus, wenn man Bürgern online die Gelegenheit zur politischen Partizipation gibt?

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Ich war Onlinemoderator beim größten Beteiligungsprojekt Deutschlands. Das Ganze nannte sich Bürgerforum 2011. Es wurde vom Bundespräsidenten initiiert und von der Bertelsmann und der Heinz Nixdorf Stiftung finanziert. In Zeiten, in denen der Ruf nach direkter Demokratie und politischer Mitbestimmung durch die sogenannten Wutbürger immer größer wird, ist das Bürgerforum ein wichtiges und vielversprechendes Experiment, um herauszufinden, wie das eigentlich genau aussieht: Beteiligung von Massen. Umso seltsamer, dass es bisher, bis auf wenige Ausnahmen, nicht öffentlich wahrgenommen wurde.

Es ging los mit Auftaktveranstaltungen in den 25 beteiligten Regionen am 12. März. Ich war zuständig für den Landkreis Teltow-Fläming. Pro Region gab es idealerweise 400 Teilnehmer, die sich in einem von 6 Themenkomplexen (Bildung, Demokratie und Beteiligung, Familiäre Lebensformen, Solidarität und Gerechtigkeit, Integration und Demographie) zu Wort melden sollten.

Das Ergebnis – ein Bürgerprogramm mit Vorschlägen für die Politik - wird am 28. Mai am Tag der Demokratie in Bonn dem Bundespräsidenten Wulff übergeben. Es soll das Ergebnis eines demokratischen Verfahrens sein, in dem 10000 Menschen 8 Wochen lang Ideen eingebracht, diskutiert und schließlich die besten ausgewählt haben. Während des Verfahrens war jedoch zu beobachten, dass die Beteiligung - zumindest in der Onlinephase - sehr zu wünschen übrig ließ.

Technische Hürden?

Besonders ältere Teilnehmer haben beim Auftakt Bedenken gegen die technische Seite der Unternehmung geäußert. "Im Internet kann man doch nicht diskutieren", erklärte mir ein älterer Mann, "eine Diskussion, das ist, wenn sich Menschen gegenüber sitzen und miteinander sprechen."

Damals entgegnete ich, dass hier ja gerade die Chancen des Internets lägen: Plötzlich könne man sich zu tausenden an virtuellen Tischen zusammensetzen und über einen längeren Zeitraum als einen hitzigen Nachmittag miteinander Ideen entwickeln. Welcher Stammtisch kann das schon? Und wie sollte sich eine Runde von zehntausend Menschen jemals auf etwas einigen können? Ist das nicht gerade der Grund, warum Stammtische keine politische Relevanz haben? Der alte Mann winkte ab: aber trotzdem, es sei eben nicht das Gleiche.

Er bekam leider recht. Als die Teilnehmer im Onlineforum die Herausforderungen ausdiskutieren sollten, auf die sie sich beim Auftakt geeinigt hatten, wurde es plötzlich still. Tagelang passierte in einigen Ausschüssen nichts, dann kaum etwas und bis zum Ende waren es zwar genug Wortmeldungen, um daraus einen Ergebnistext zu schnitzen, aber eine lebendige und informative Diskussion sieht anders aus. Die Frage ist jetzt, woran das gelegen hat. Schließlich war es ein ausgewiesenes Experiment und man muss sich fragen, ob es geglückt ist.

Regeln, die frustrieren

Neben technischen Hürden könnte eine weitere Ursache für die mangelnde Beteiligung in dem Verfahren liegen. Zwar sind einige bereits erhobene Vorwürfe bei genauer Betrachtung unhaltbar, doch Probleme und Unzufriedenheiten mit der technischen Umsetzung hat es durchaus gegeben, wie man im Kommentarbereich nachlesen kann.

Um sicher zu stellen, dass Einigungen erzielt werden, hat man an bestimmten Stellen Abstimmungsverfahren und Personen mit bestimmten redaktionellen Rechten eingesetzt, die die Freiheiten der Diskussion beschnitten haben. Derartige Regulierungen sind natürlich nicht individuell angepasst, sondern, um es nicht unnötig kompliziert zu machen, fällt der Hammer überall zur gleichen Zeit, auch wenn sich die Teilnehmer noch mitten in der Diskussion befinden. Dadurch wurden Wortmeldungen plötzlich nicht berücksichtigt, ganze Vorschläge, deren Ausarbeitung bereits sehr fortgeschritten war und in denen einiges an Herzblut steckte, bekamen nicht genug Stimmen und fielen unter den Tisch.

Wenn man bedenkt, dass diejenigen, die sich hier engagiert haben, dafür ihre Freizeit opferten, wird der dabei entstehende Ärger bzw. die Enttäuschung verständlich. Darüber, dass solche Regulierungen zugunsten eines Ergebnisses nötig sind, wird es wohl kaum Streit geben. Wohl aber darüber, wie sie im Einzelnen auszusehen haben. Und da kann es vorkommen, dass Teilnehmer sich so ungerecht behandelt fühlen, dass sie aussteigen.

Aber ist das alles? Demokratie erzeugt nun mal Verlierer. Das ist keine große Überraschung. Hätten das nicht Kleinigkeiten sein müssen angesichts der glühenden Rede des Bundespräsidenten und der Möglichkeit, etwas zu bewegen, wo sonst das Gefühl der Ohnmacht herrscht?

Klippen für das Engagement

Viele der Teilnehmer waren während des Auftakts sehr engagiert und voller Leidenschaft für die gute Sache. Die Skepsis in Bezug auf die Wirksamkeit des Bürgerprogramms wurde von den Teilnehmern kollektiv nach hinten verschoben, um eine fruchtbare und optimistische Diskussion zu ermöglichen. Als es dann aber konkret darum ging, die Vorschläge zu besprechen, wurde es immer ruhiger.

Im Gegensatz zu den laut und energisch gestellten Forderungen, fielen die Abwägungen zur Umsetzung äußerst verhalten aus. Vielleicht gibt es – entgegen aller Euphorie in Bezug auf die Möglichkeiten neuer Medien - ein generelles Problem, wenn sehr viele Menschen ergebnisorientiert miteinander diskutieren sollen. Man werfe nur einen Blick in die Kommentarseiten großer Zeitungen und frage sich, zu welchen Ergebnissen die Kommentatoren dort kommen. Meistens geht es ab der dritten Seite nur noch darum, einander Dummheit vorzuwerfen. Und auch wenn es einzelne konstruktive Aussagen gibt, so verschwinden sie schließlich im Wortschwall bissiger Bemerkungen.

Die Frage ist also: Wie schafft man es, Beteiligung so zu organisieren, dass Ergebnisse auf einer möglichst breiten, demokratischen Basis erzielt werden können? Und kann das überhaupt funktionieren?

Ich sehe hier zwei größere Probleme. Zum einen gibt es bei Diskussionen ab einer bestimmten Teilnehmerzahl das Problem des Meinungsführers. Meinungsführer sind daran zu erkennen, dass sie sich viel und heftig zu Wort melden und dass sie den Rest der Teilnehmer weitgehend verstummen lassen. Elisabeth Noelle-Neumann beschrieb dieses Phänomen mit dem Begriff der Schweigespirale. Menschen verstummen, wenn sie das Gefühl haben, für ihre Meinung keine Mehrheit gewinnen zu können. Wähnen sie sich aber auf der sicheren Seite, äußern sie sich wesentlich freimütiger. Es ist, als würden die Meinungsführer dem Rest der Teilnehmer den Wind aus den Segeln nehmen.

Dieses Phänomen ist ein Problem, weil es dem Ideal der Gleichheit, das Bürgerbeteiligungen zugrunde liegt, widerspricht. Es hat eben nicht jede Stimme das gleiche Gewicht. Der Unterschied zwischen online und offline dürfte in diesem Punkt nicht allzu groß sein, denn wer kennt sie nicht, die Runden in denen das Gespräch von einem oder zwei Teilnehmern beherrscht wird? Solche menschlichen Gravitationsfelder passen nicht in die Vision eines basisdemokratischen Internets, in dem alle gleichermaßen mitreden dürfen.

Und dann gibt es da noch diesen sehr leisen und fast verschämten Verdacht im Hinterkopf, dass zwar alle gern schimpfen und sich über "die da oben" beschweren, dass sich aber viele von ihnen schnell überfordert fühlen und verstummen, wenn es daran geht, selbst verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.

Die Schwierigkeit des Bürgerforums bestand ja nicht darin, Missstände anzuprangern. Es war sogar so, dass die Masse an angeprangerten Übeln nur unter großen Schmerzen durch Wahlverfahren dezimiert werden konnte. Als es dann aber an die Umsetzung ging, schienen die meisten der Hälse schon trocken zu sein und manch ein Kommentar verwies auf die zuständige Behörde, die sich darum kümmern sollte. Denn wir, so hieß es an solchen Stellen, kennen uns eh nicht genug damit aus, um eine kompetente Entscheidung fällen zu können.

Wenn das mal nicht ein Plädoyer für die repräsentative Demokratie ist, dachte ich und damit ein ziemlich ernüchterndes Fazit des Bürgerforums.